Studie

Wie konsumieren Menschen, wenn sie emotional überfordert, innerlich fragmentiert oder dauerhaft reizerschöpft sind? Konsum als Regulation, nicht als Belohnung.

Autor
Brand Science Institute
Veröffentlicht
11. April 2025
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1. Einleitung

Die Corona-Pandemie hat nicht nur institutionelle, ökonomische und soziale Ordnungen destabilisiert, sondern zugleich einen tiefgreifenden Eingriff in die psychische Binnenstruktur des Konsumverhaltens moderner Gesellschaften bewirkt. Isolationserfahrungen, die Entkörperlichung sozialer Interaktionen und die digitale Dauerverfügbarkeit emotionaler Reize haben dazu geführt, dass viele Konsumenten ihre Fähigkeit zur affektiven Selbstregulation, zur inneren Begrenzung sowie zur Differenzierung zwischen Nähe und Distanz, Innen und Außen zumindest temporär eingebüßt haben. Was sich im klinischen Rahmen als Vulnerabilität beschreiben ließe, gewinnt im gesellschaftlichen Maßstab strukturbildende Qualität: Die postpandemische Konsumentenrealität ist vielfach durch Reizerschöpfung, Fragmentierung und affektive Überforderung geprägt – und durch eine erhöhte psychische Durchlässigkeit im Umgang mit Umweltreizen charakterisiert.

In diesem veränderten psychischen Kontext transformieren sich auch die Funktionen von Konsum und Markenkommunikation. Während klassische Konsumtheorien Konsumhandlungen als Ausdruck von Bedürfniserfüllung, sozialer Distinktion oder symbolischer Selbstverwirklichung interpretieren, deutet sich in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage eine fundamentale Verschiebung an: Konsumentscheidungen entstehen vermehrt nicht aus einem expansiven Motiv der Entfaltung, sondern aus einem defensiven Bedürfnis nach psychischer Stabilisierung, affektiver Entlastung und symbolischer Rückversicherung. Konsum dient unter diesen Bedingungen nicht länger der Belohnung, sondern der Regulation – er wird zur Mittelhandlung, mit der ein innerer Zustand bearbeitet werden soll, nicht zur Befriedigung eines äußeren Begehrens.

Diese Verschiebung verändert auch die Bedeutung von Marken. Markenkommunikation, die auf Reizoptimierung, emotionale Überwältigung oder performative Überbietung setzt, trifft auf ein Publikum, das zunehmend durch Reaktanz, Überforderung oder affektive Abwehr geprägt ist. In einer medial überaktiven Umwelt, in der visuelle Dichte, kommunikative Dringlichkeit und ständige Adressierung dominieren, geraten viele Konsumenten nicht in Kontakt mit Marken – sie ziehen sich von ihnen zurück. Die Marke verliert unter diesen Bedingungen ihre klassische Funktion als Projektionsfläche narzisstischer Idealisierung. Sie wird nur dann als relevant wahrgenommen, wenn sie psychische Kontur bietet, affektive Stabilität vermittelt und als emotional zumutbar erlebt wird.

Diese Entwicklung stellt zentrale Grundannahmen der Markenführung infrage. Marken, die weiterhin auf Lautstärke, Aktivierung und emotionale Zuspitzung setzen, riskieren, als affektiv übergriffig oder psychisch invasiv wahrgenommen zu werden. Demgegenüber gewinnen Marken an Relevanz, die nicht auf Überzeugung, sondern auf Containment setzen – die nicht Aufmerksamkeit erzeugen, sondern psychische Haltefähigkeit signalisieren. In einer Kommunikationskultur, die zunehmend von emotionaler Überreizung geprägt ist, verschiebt sich die Währung der Markenbindung: Sie bemisst sich nicht mehr an affektiver Intensität, sondern an der Fähigkeit zur affektiven Regulierung.

Die vorliegende Studie untersucht, welche psychischen Funktionen Konsumhandlungen in einem Kontext emotionaler Überforderung, innerer Fragmentierung und dauerhafter Reizpräsenz übernehmen – und welche Bedingungen Markenkommunikation erfüllen muss, um in einer solchen affektiven Umwelt überhaupt noch Anschlussfähigkeit zu erzeugen. Ausgehend von der These, dass Konsum im Modus psychischer Überforderung weniger einem hedonistischen Antrieb folgt als einer affektiv-regulativen Logik, wird gefragt, wie Marken heute gestaltet, kommuniziert und positioniert werden müssen, um nicht als Belastung, sondern als psychologisch verträglicher Resonanzraum erlebt zu werden.

2. Zielsetzung

Die vorliegende Studie verfolgt das Ziel, die psychodynamische Funktion des Konsums unter Bedingungen emotionaler Überforderung systematisch zu erfassen und in ihrer Relevanz für aktuelle Konsumpraktiken und Markenstrategien zu analysieren. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Konsumhandlungen im gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand nicht mehr primär auf die Erfüllung funktionaler oder hedonistischer Bedürfnisse zielen, sondern zunehmend als Mittel psychischer Selbstregulation fungieren. Konsum wird damit zu einer Handlung, die nicht mehr ausgerichtet ist auf äußere Mehrwerte, sondern auf die Wiederherstellung innerer Ordnung, affektiver Beruhigung oder symbolischer Selbstvergewisserung.

Im Zentrum der Untersuchung steht die Analyse dieser veränderten Konsumlogik. Es soll verstanden werden, wie Konsumenten in einem Kontext affektiver Erschöpfung, kognitiver Reizüberladung und fragmentierter Identitätsverhältnisse Kaufentscheidungen treffen und welche innerpsychischen Prozesse dabei leitend sind. Dabei liegt der Fokus nicht auf dem Konsumobjekt selbst, sondern auf seiner subjektiven Funktion: Was wird durch Konsum abgewehrt, stabilisiert oder kompensiert? Welche Rolle spielen Marken dabei als symbolische Resonanzträger oder als Container emotionaler Komplexität?

Ein weiteres Ziel besteht in der Identifikation neuer Konsummotivationen, die sich aus dieser veränderten psychischen Lage ableiten lassen. Die Studie geht davon aus, dass klassische Konsumtreiber – etwa Prestige, Innovation, Status oder Begehrlichkeit – in affektiv belasteten Zuständen an Relevanz verlieren, während andere Motivlagen in den Vordergrund treten. Dazu gehören das Bedürfnis nach Schutz vor Reizüberflutung, die Suche nach psychischer Struktur durch ritualisierte oder vorhersagbare Kaufhandlungen, das Verlangen nach emotionaler Resonanz in einem entleerten sozialen Raum sowie die Nutzung von Konsum als Rückzugsstrategie gegenüber einer als überfordernd erlebten Außenwelt. Ziel ist es, diese Motivlagen nicht nur empirisch sichtbar zu machen, sondern in ihrer psychischen Funktionalität und kulturellen Einbettung differenziert zu verstehen.

Aufbauend auf diesen Einsichten werden strategische Konsequenzen für die Gestaltung von Markenkommunikation, Produktentwicklung und Customer Experience abgeleitet. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie Marken unter Bedingungen psychischer Überforderung gestaltet werden müssen, um nicht als affektiv invasiv, sondern als emotional entlastend, haltgebend und psychisch anschlussfähig erlebt zu werden. Die Studie zielt darauf ab, einen Beitrag zur Entwicklung eines neuen Verständnisses von Markenführung zu leisten – eines Verständnisses, das nicht länger auf Aktivierung, Differenzierung und Reizsteigerung setzt, sondern auf Resonanzqualität, Affektregulation und psychische Zumutbarkeit.

Damit positioniert sich die Untersuchung an der Schnittstelle zwischen Konsumpsychologie, tiefenpsychologischer Kulturdiagnose und strategischer Markenführung. Sie begreift Konsum nicht als isolierten Akt des Erwerbs, sondern als symbolische Selbsttechnik in einem Zustand innerer Destabilisierung – und Marken nicht als Sender, sondern als potenzielle Resonanzräume innerhalb eines affektiv aufgeladenen Alltags. Ziel ist es, aus dieser Perspektive neue Grundlinien für ein Marketing zu formulieren, das der psychischen Realität seiner Konsumenten nicht nur begegnet, sondern sie versteht, integriert und transformativ begleitet.

3. Theoretische Fundierung

Die vorliegende Studie basiert auf einem interdisziplinären Zugang, der psychodynamische, emotionspsychologische und sozialpsychologische Theorien integriert, um die psychische Funktion des Konsums unter Bedingungen der affektiven Überforderung und Reizerschöpfung zu erfassen. Ziel dieser theoretischen Fundierung ist es, die zugrunde liegenden Mechanismen zu beleuchten, durch die Konsumhandlungen zu einem psychischen Kompensationsmechanismus werden und welche Rolle Marken dabei als affektive Regulativsysteme übernehmen. Die Theorien, die hier miteinander verbunden werden, bieten unterschiedliche Perspektiven auf das Konsumverhalten, ohne diese in einem reduktionistischen Rahmen zu vereinen. Vielmehr wird eine differenzierte Betrachtung der emotionalen und psychologischen Bedingungen des Konsums in einer überreizen und fragmentierten Gesellschaft angestrebt.

3.1 Selbstpsychologie (Heinz Kohut)

Im Zentrum der Selbstpsychologie von Heinz Kohut steht die Annahme, dass das Selbst des Menschen auf externe Spiegelungen und idealisierte Objekte angewiesen ist, um seine Kohärenz und Stabilität zu wahren. Kohut beschreibt die Idee von „Selbstobjekten“ als Objekte oder Personen, die stellvertretend für die innere Kohärenz des Selbst sorgen, indem sie emotionale Unterstützung, Bestätigung und Reflektion bieten. Diese Selbstobjekte sind entscheidend für die Entwicklung eines stabilen Ichs, besonders in Zeiten von innerer Instabilität. Kohut stellt klar, dass das Selbst in einer gesunden psychischen Verfassung auf diese externen Stabilisatoren angewiesen ist, um eine kohärente und stabile Identität zu entwickeln.

Übertragen auf Konsumprozesse bedeutet dies, dass Markenprodukte und Dienstleistungen eine vergleichbare Funktion wie Selbstobjekte übernehmen können, insbesondere in Zeiten emotionaler Überforderung. Der Konsum bestimmter Markenprodukte wird nicht mehr primär aus funktionalen oder hedonistischen Bedürfnissen heraus getätigt, sondern wird zu einer psychischen Notwendigkeit, die das fragile Selbst stabilisieren soll. Marken werden zu „Selbstobjekten“, die vorübergehend eine emotionale und psychische Kohärenz erzeugen und das Gefühl der Fragmentierung und Überforderung lindern. In diesem Zusammenhang ist der Kaufakt nicht nur eine rationale oder pragmatische Entscheidung, sondern eine psychische Handlung, die dem Konsumenten kurzfristig eine Rückversicherung für das Selbst bietet, indem er emotionalen Halt und Symbolik liefert. Die Marke fungiert hier als stabilisierendes, spiegelndes und idealisierendes Objekt.

3.2 Regulationstheorien der Emotion (Gross, Gratz & Roemer)

Die Emotionsregulationstheorien von James Gross (1998) sowie Gratz und Roemer (2004) beschreiben, wie Individuen die Qualität und Intensität ihrer emotionalen Zustände kontrollieren, um eine affektive Balance zu wahren. Dabei geht es nicht nur um die Regulierung von positiven oder negativen Gefühlen, sondern auch um die Dämpfung von intensiven Reaktionen, die durch äußere oder innere Reize ausgelöst werden. In einem Zustand emotionaler Überforderung und Reizüberflutung, wie er in der postpandemischen Gesellschaft zunehmend zu beobachten ist, wird Konsum zu einem zentralen Coping-Mechanismus. Konsumenten greifen auf den Konsum zurück, um ihre affektiven Zustände zu dämpfen, zu verändern oder zumindest kurzfristig zu regulieren. Der Konsum erfüllt hier eine entlastende Funktion, indem er den emotionalen Druck mindert und den Konsumenten von belastenden Gedanken oder negativen Gefühlen ablenkt.

Die Theorie der affektiven Dysregulation, die Gratz und Roemer (2004) formulieren, ergänzt diese Perspektive um die Idee, dass in belasteten Situationen Konsum nicht mehr durch freiwillige Entscheidungen gesteuert wird, sondern zunehmend durch ritualisierte Verhaltensmuster, die als Reaktion auf Überforderung entstehen. Konsumhandlungen werden in diesem Fall als automatisierte Regulierungsmechanismen betrachtet, die den Konsumenten kurzfristig emotional stabilisieren, ohne dass die zugrundeliegende Problematik tatsächlich adressiert wird. Die Markenkommunikation muss daher nicht nur an der Oberfläche der Produktwerte ansetzen, sondern tiefere, affektive Bedürfnisse nach emotionaler Entlastung und psychischer Sicherheit ansprechen, um nicht nur zu aktivieren, sondern auch zu beruhigen.

3.3 Objektbeziehungstheorie (Melanie Klein, Donald Winnicott)

Die Objektbeziehungstheorie betont die Rolle der frühen Beziehungen des Individuums zu seinen primären Bezugspersonen und deren Einfluss auf die psychische Entwicklung. Melanie Klein und Donald Winnicott erweitern das Verständnis von Objekten als nicht nur externe Dinge, sondern als bedeutungsvolle symbolische Träger, die das Kind in seiner psychischen Entwicklung stützen. Besonders der Begriff des „Übergangsobjekts“, den Winnicott einführt, ist für das Verständnis des Konsums in der postpandemischen Gesellschaft von Bedeutung. Übergangsobjekte, so Winnicott, helfen dem Kind, das Fehlen der primären Bezugsperson zu kompensieren und vermitteln dem Kind emotionalen Halt.

Übertragen auf Konsumverhalten und Marken bedeutet dies, dass bestimmte Produkte und Marken die Funktion von Übergangsobjekten übernehmen können – insbesondere in Zeiten, in denen traditionelle soziale Bindungen und emotionale Resonanzsysteme ins Wanken geraten sind. In Krisenzeiten, wie sie durch die Pandemie erlebt wurden, suchen Konsumenten nach symbolischen Objekten, die ihre emotionale Selbstregulation unterstützen. Marken, die als „psychologische Anker“ fungieren, werden in dieser Phase zu stabilisierenden Elementen, die zwischen Innen und Außen vermitteln und die Affekte des Konsumenten ordnen. Sie sind mehr als bloße Konsumgüter – sie werden zu symbolischen Stabilisatoren, die das Ich vor einer weiteren Fragmentierung schützen. In einer Welt, die von Unsicherheit und Instabilität geprägt ist, gewinnen solche Marken an Bedeutung, die als verlässliche „Übergangsobjekte“ fungieren und Vertrauen sowie emotionalen Halt vermitteln.

3.4 Reaktanztheorie (Jack Brehm)

Die Reaktanztheorie von Jack Brehm (1966) beschreibt das Phänomen, dass Menschen auf wahrgenommene Einschränkungen ihrer Freiheit mit Widerstand und negativen Emotionen reagieren. Diese Theorie wird besonders relevant, wenn Konsumenten auf eine Markenkommunikation stoßen, die als invasiv oder manipulativ erlebt wird. In einer Situation, in der Konsumenten emotional erschöpft und durch die ständige Präsenz von Reizen überfordert sind, wird diese Art der Kommunikation als Bedrohung empfunden. Anstatt aktiv und aufnahmebereit auf eine Werbung zu reagieren, löst sie Abwehrmechanismen aus, die in Reaktanz umschlagen.

Für die Markenführung bedeutet dies, dass Werbebotschaften, die auf Überstimulation setzen oder auf manipulative Emotionalisierung angewiesen sind, in einer Gesellschaft affektiver Erschöpfung potenziell schädlich wirken. Konsumenten, deren Reizverarbeitungskapazität überschritten ist, reagieren mit Widerstand und Distanz gegenüber Marken, die auf Überwältigung setzen. Marken, die dagegen auf eine zurückhaltende, distanzierte Kommunikation setzen, bei der der Konsument die Kontrolle behält und sich nicht bevormundet fühlt, sind besser in der Lage, Vertrauen aufzubauen und emotionale Bindung zu erzeugen. In der postpandemischen Welt der Konsumenten ist die Toleranz für invasive Kommunikation stark gesunken – Marken müssen lernen, nicht nur Aufmerksamkeit zu erregen, sondern auch affektive Selbstbestimmung zu respektieren.

3.5 Affektlogik (Luc Ciompi)

Luc Ciompi entwickelt in seiner Affektlogik das Konzept, dass Emotionen nicht isoliert von kognitiven Prozessen existieren, sondern diese vielmehr durchdringen und strukturieren. Emotionen beeinflussen die Wahrnehmung, Entscheidungsfindung und Handlungsplanung, insbesondere in hochaffektiven Zuständen. Unter Bedingungen affektiver Überforderung, wie sie in der postpandemischen Gesellschaft zunehmend auftreten, verändert sich die Art und Weise, wie Konsumenten Informationen verarbeiten und Entscheidungen treffen. Konsumhandlungen, die unter diesen Bedingungen vorgenommen werden, erscheinen aus einer rationalen Perspektive vielleicht als irrational, sind aber psychologisch gesehen funktional – sie erfüllen eine stabilisierende oder entlastende Funktion in einem emotional überladenen Kontext.

Diese Theorie hilft zu verstehen, warum Konsumenten unter Bedingungen emotionaler Erschöpfung nicht nach einem „optimum“ streben, sondern nach einer kurzfristigen Stabilisierung ihres inneren Zustandes. Konsum wird in diesem Fall nicht aus einem Streben nach maximalem Nutzen oder Belohnung heraus gewählt, sondern als eine Form der affektiven Bewältigung. Die Entscheidung, ein Produkt zu kaufen oder eine Marke zu wählen, ist nicht das Ergebnis rationaler Kalkulation, sondern eine psychisch funktionale Handlung, die den emotionalen Zustand des Konsumenten stabilisieren soll. Marken, die auf diese affektive Logik eingehen und eine ruhige, klare, wenig invasive Kommunikation bieten, sind besser in der Lage, Bindung zu schaffen und psychische Entlastung zu bieten.

4. Hypothesen

Die vorliegende Studie zielt darauf ab, ein tiefenpsychologisch fundiertes Verständnis der inneren Motivationen, psychischen Funktionen und kommunikativen Kontexte von Konsumhandlungen in einem Zustand affektiver Überforderung und psychischer Erschöpfung zu entwickeln. In Abgrenzung zu klassischen Konsumtheorien, die Entscheidungen primär als Ausdruck rationaler Wahl, hedonistischer Maximierung oder sozialer Distinktion interpretieren, wird hier ein kompensatorisches Konsummodell vorgeschlagen: Konsum erscheint nicht als Belohnung, sondern als Regulation; nicht als Ausdruck von Autonomie, sondern als Versuch der affektiven Stabilisierung in einem fragmentierten Selbstzustand.

Im Zentrum steht dabei die Frage, wie sich psychische Instabilität, innere Desintegration und affektive Reizüberflutung auf Konsumentscheidungen, Markenwahrnehmung und Kommunikationsresonanz auswirken. Aus der theoretischen Fundierung der Studie ergeben sich vier zentrale Hypothesen, die diesen Zusammenhang empirisch fassbar machen sollen.

H1: Konsumhandlungen in Zuständen innerer Instabilität und affektiver Überforderung dienen primär der psychischen Selbstregulation – nicht der Belohnung oder Bedürfnisbefriedigung.

Diese Hypothese stellt eine bewusste Abkehr von der gängigen Annahme dar, dass Konsumakte vorrangig durch Wünsche, Genussstreben oder Nutzenkalküle motiviert sind. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass insbesondere in Zuständen emotionaler Überforderung, innerer Leere oder fragmentierter Selbststruktur der Konsumakt eine primär stabilisierende Funktion erfüllt. Der Kauf eines Produkts dient dabei weniger dem Erleben eines zusätzlichen Genusses als vielmehr der Herstellung einer affektiven Minimalstabilität.

Diese Annahme basiert auf zwei sich ergänzenden Theorieansätzen:

Erstens auf der Selbstpsychologie nach Heinz Kohut, in der Konsumobjekte als funktionale Äquivalente sogenannter „Selbstobjekte“ verstanden werden können. Wenn das Selbst bedroht, fragmentiert oder entleert ist – sei es durch soziale Isolation, Reizüberflutung oder chronische Unsicherheit – benötigt es externe Objekte, die eine stabilisierende Funktion übernehmen. Markenprodukte können in dieser Konstellation als temporäre Spiegel, Beruhiger oder Strukturgeber fungieren.

Zweitens auf der Emotionsregulationstheorie nach Gross und ihrer Weiterentwicklung durch Gratz & Roemer. Diese zeigen, dass Menschen auf belastende emotionale Zustände oft mit externalisierten Coping-Strategien reagieren – etwa durch symbolisch aufgeladene Konsumhandlungen, die nicht die Ursache adressieren, aber das Erleben kontrollieren. Der Kaufakt wird zur psychischen Schutzgeste: eine Handlung, die hilft, emotional zu funktionieren – nicht, weil sie einen Mangel behebt, sondern weil sie ein inneres Ungleichgewicht für einen Moment auffängt.

Damit wird Konsum als Regulation, nicht als Belohnung, neu modelliert – eine Hypothese, die das Selbstverständnis moderner Konsumenten grundlegend infrage stellt.

H2: Je höher das Maß an affektiver Erschöpfung und Reizüberflutung, desto stärker ist die Reaktanz gegenüber emotional aktivierender, lauter oder imperativ formulierter Markenkommunikation.

Diese Hypothese geht von der Annahme aus, dass die psychische Belastungslage moderner Konsumenten – insbesondere infolge postpandemischer Entgrenzung, digitaler Hyperpräsenz und institutioneller Unsicherheiten – zu einer massiven Senkung der affektiven Toleranzschwelle geführt hat. Wer dauerhaft überreizt ist, reagiert nicht mit Interesse auf emotionale Appelle, sondern mit Reaktanz, Rückzug oder Abwehr. Werbung wird unter solchen Bedingungen nicht als Einladung zur Beziehung wahrgenommen, sondern als Grenzüberschreitung.

Theoretische Grundlage bildet hier die klassische Reaktanztheorie nach Jack Brehm, die davon ausgeht, dass wahrgenommene Einschränkungen der inneren Autonomie zu psychischer Gegenwehr führen – insbesondere, wenn sie mit imperativen, suggestiven oder autoritären Kommunikationsmitteln verbunden sind. Wer sich innerlich destabilisiert oder entmächtigt fühlt, verteidigt das verbliebene psychische Territorium durch Abwehr gegen äußere Reize.

Verstärkt wird dieses Phänomen durch die Affektlogik nach Luc Ciompi, die beschreibt, wie affektive Zustände die kognitive Reizverarbeitung modulieren. In hochaffektiven Kontexten verändert sich nicht nur die Wahrnehmung von Botschaften, sondern auch die Reaktionslogik: Das, was in stabilen Zuständen als emotional bewegend erlebt wird, erscheint unter Bedingungen der affektiven Erschöpfung als manipulierend, übergriffig oder invasiv. Werbung, die unter normalen Umständen aktivierend wirkt, kippt in belasteten Zuständen ins Gegenteil – aus Aktivierung wird Überforderung.

Die Hypothese stellt somit die gängige Maxime „Emotionalisierung erzeugt Wirkung“ infrage – und ersetzt sie durch eine differenziertere Formel: Kommunikation wirkt nur, wenn sie psychisch zumutbar ist.

H3: Marken, die als emotional beruhigend, psychisch strukturierend oder affektiv eindämmend erlebt werden, erzeugen höhere Bindungseffekte bei psychisch belasteten Konsumenten als performativ aufgeladene, differenzbetonte Marken.

Diese Hypothese basiert auf dem Verständnis, dass Marken nicht nur funktionale, sondern auch psychodynamische Objekte sind. Sie wirken nicht nur durch Nutzenversprechen oder Imagecodes, sondern durch ihre Fähigkeit, affektive Zustände zu halten, zu spiegeln oder zu ordnen. In einer psychisch aufgeladenen Konsumumwelt gewinnen jene Marken an Bedeutung, die als verlässlich, ruhig, symbolisch kohärent und affektiv eindämmend erlebt werden – unabhängig davon, ob sie besonders innovativ oder trendsetzend sind.

Zentraler theoretischer Anker ist hier die Objektbeziehungstheorie nach Winnicott, insbesondere das Konzept des Übergangsobjekts. Solche Objekte vermitteln zwischen Innen und Außen, zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen affektiver Not und symbolischer Sicherheit. Marken, die nicht überfordern, sondern eindämmen, nicht dramatisieren, sondern deeskalieren, übernehmen in dieser Perspektive eine haltende Funktion – ähnlich wie Bindungspersonen in frühen Entwicklungsphasen.

In einer Gesellschaft, in der institutionelle Haltestrukturen (z. B. Familie, Religion, Arbeit, Öffentlichkeit) an Bindungskraft verloren haben, treten Marken zunehmend als symbolische Ersatzsysteme auf: Sie vermitteln Kontinuität, Wiedererkennbarkeit und affektive Kohärenz – und werden gerade dadurch zu Bindungsträgern in instabilen Zeiten.

Diese Hypothese fragt deshalb nicht nur nach Markenbindung als Outcome, sondern nach ihrer psychischen Strukturvoraussetzung: Wodurch entsteht Bindung unter Bedingungen affektiver Instabilität? Die Antwort liegt nicht in Differenz, sondern in Dämpfung. Nicht in Disruption, sondern in Verlässlichkeit.

H4: In chronisch erschöpften, affektiv instabilen Zuständen nehmen Konsumhandlungen eine ritualisierte, stereotype und symbolisch aufgeladene Form an – sie folgen dem Bedürfnis nach Stabilisierung, nicht nach Exploration oder Expansion.

Diese Hypothese beschreibt eine grundlegende Veränderung der Handlungsmotivation: Während klassischer Konsum als Ausdruck von Neugier, Lust oder Selbstverwirklichung verstanden wurde, zeigen sich unter Bedingungen psychischer Überlastung zunehmend ritualisierte Handlungsmuster. Menschen kaufen nicht, um sich zu entfalten – sondern um sich nicht zu verlieren. Die Wahl des Produkts ist dabei häufig sekundär: Entscheidend ist der Vorgang selbst – der wiedererkennbare, vertraute, kontrollierbare Akt, der in einer chaotischen Welt Sicherheit suggeriert.

Aus der Perspektive der Emotionsregulation ist dieses Verhalten ein typisches Zeichen für extern orientiertes Coping: Die Handlung dient nicht der Lösung, sondern der Entlastung. Aus Sicht der Affektlogik ist das Verhalten rational – nicht ökonomisch, sondern psychodynamisch. Der Konsumakt ersetzt andere Formen psychischer Selbstvergewisserung, etwa durch soziale Resonanz oder kreative Selbstwirksamkeit, die in einer überlasteten Lebensrealität nicht mehr zur Verfügung stehen.

Die Hypothese unterstellt damit, dass erschöpfte Konsumenten nicht innovativ, sondern repetitiv konsumieren; nicht explorativ, sondern konservierend. Sie greifen auf das zurück, was vertraut, vorhersagbar und psychisch unaufwändig ist. Marken, die solche Konsumrituale unterstützen – etwa durch Kontinuität, Einfachheit oder sensorische Verlässlichkeit – erfüllen eine symbolische Ordnungsfunktion, die weit über ihren Produktnutzen hinausgeht.

Diese vier Hypothesen bilden gemeinsam das psychologische Kernmodell der Studie. Sie beschreiben, wie Konsum in einer Gesellschaft, die unter den Spätfolgen einer kollektiven Überforderung leidet, nicht mehr primär funktional oder identitätsstiftend ist – sondern eine Form emotionaler Selbstbehandlung darstellt. Markenkommunikation, die dieses veränderte Verhältnis ignoriert, riskiert psychische Überforderung. Markenführung, die es ernst nimmt, wird zu einem Akt psychologischer Verantwortung.

5. Studiendesign

Die vorliegende Untersuchung folgt einem fokussierten, theoriebasierten Mixed-Methods-Design, das qualitative Tiefenstrukturanalysen mit quantitativer Musterprüfung systematisch verbindet. Ziel ist es, die psychodynamisch motivierten Konsumhandlungen in emotional belasteten Zuständen nicht nur explorativ zu erfassen, sondern typologisch zu strukturieren und quantitativ zu validieren. Der methodische Zugriff orientiert sich dabei an der erkenntnisleitenden Perspektive: Verstehen vor Erklären, Struktur vor Statistik.

Die Kombination aus qualitativer Tiefenanalyse und quantitativer Skalenmessung erlaubt es, sowohl die subjektive Erlebnislogik der Befragten als auch übergreifende psychologische Muster und Konsumtypen sichtbar zu machen. Das Studiendesign wurde dabei bewusst als leichtgewichtig, aber theoriegesättigt konzipiert – mit dem Ziel, das Innenleben der Konsumhandlungen differenziert, aber zugleich operationalisierbar zu erfassen.

5.1 Qualitative Erhebung

Im Zentrum des qualitativen Studiendesigns stehen 30 tiefenpsychologisch orientierte Einzelinterviews, die auf Basis eines narrativen, nicht-direktiven Leitfadens geführt werden. Ziel ist die Rekonstruktion des subjektiven Erlebens von Konsumhandlungen unter Bedingungen emotionaler Überforderung, innerer Fragmentierung oder affektiver Erschöpfung. Die Interviewstrategie kombiniert drei Erhebungselemente:

  • Erlebniserzählungen, in denen die Befragten eingeladen werden, konkrete Konsumsituationen retrospektiv und emotional aufgeladen zu rekonstruieren – inklusive innerer Zustände, situativer Auslöser und Nachwirkungen;
  • stimulusgestützte Projektionen, bei denen bildliche oder sprachliche Markenstimuli vorgelegt werden, um emotionale Resonanzmuster, Abwehrreaktionen oder Bindungsdynamiken anzuregen;
  • symbolische Konsumlandschaften, in denen mithilfe projektiver Verfahren (z. B. freie Assoziationen, „Marken als Orte“, Visualisierung innerer Zustände) implizite Bedeutungszuschreibungen an Konsumhandlungen freigelegt werden.

Die Auswertung erfolgt mithilfe der Tiefenhermeneutik nach Lorenzer in Kombination mit der strukturierenden Grounded Theory (Strauss & Corbin). Ziel ist die Typologiebildung psychischer Konsumlogiken, die verschiedene Modi des Konsumverhaltens im Zustand innerer Instabilität differenziert abbildet – etwa ritualisierender Konsum, symbolischer Schutzkonsum, Reaktanzkonsum oder dissoziativer Rückzugskonsum.

5.2 Quantitative Erhebung

Ergänzend zur qualitativen Tiefenanalyse wird eine standardisierte Online-Befragung mit n = 250 Teilnehmenden durchgeführt. Die Stichprobe wird aus dem deutschsprachigen Raum rekrutiert (Deutschland, Österreich, Schweiz) und hinsichtlich Alter, Geschlecht und soziodemografischer Grundverteilung quotiert. Ziel ist die empirische Überprüfung der zuvor abgeleiteten Hypothesen sowie die Identifikation konsistenter psychologischer Konsumprofile in affektiven Belastungslagen.

Die Erhebung umfasst folgende theoretisch fundierte Skalenmodule:

  • Skala zur affektiven Erschöpfung und Fragmentierung (Eigenentwicklung auf Basis von Items aus der DES-II und IPDE-Screeningliste, ergänzt um digitale Reizüberlastungs-Items);
  • Skala zur Emotionsregulation (Kurzform der Difficulties in Emotion Regulation Scale nach Gratz & Roemer, ergänzt um konsumbezogene Items);
  • Skala zur psychologischen Reaktanz (Hong Psychological Reactance Scale; übersetzte und validierte Version);
  • Konsummotivationsskala (Eigenentwicklung, theoriebasiert auf Kohut, Gross, Ciompi: funktional-regulativ vs. hedonistisch-explorativ);
  • Markenresonanzskala (affektive Resonanzfähigkeit, psychische Entlastung, symbolische Kohärenz).

Darüber hinaus wird über Vignetten und Markenspots unterschiedlicher Tonalität (z. B. aktivierend vs. beruhigend, aufdringlich vs. zurückhaltend) eine experimentelle Reizexposition integriert, um affektive Reaktanz oder Bindungsbereitschaft messbar zu machen.

5.3 Kombinierte Auswertung

Die qualitative und quantitative Erhebung werden aufeinander bezogen, um vertiefende, typologisch verankerte Hypothesenprüfung zu ermöglichen:

  • In der qualitativen Analyse werden durch Tiefeninterpretation und Grounded Coding mindestens vier konsumpsychologische Typen herausgearbeitet, die durch spezifische Erlebensformen, Handlungsmuster und Markenbeziehungen charakterisiert sind.
  • In der quantitativen Analyse erfolgt eine Clusteranalyse, um strukturähnliche Gruppen anhand der Skalenprofile zu identifizieren, sowie eine Korrelationsanalyse, um systematische Zusammenhänge zwischen psychischer Belastung, Konsummotivation und Markenwahrnehmung zu erfassen.
  • Die Typenprofile aus der qualitativen Analyse werden mit den Clustern aus der quantitativen Befragung abgeglichen, um die inhaltliche Validität und psychologische Konsistenz der Segmentierung zu sichern (sogenannte konvergente Triangulation).

Ziel ist keine repräsentative Generalisierbarkeit im klassischen Sinne, sondern ein tief fundiertes, psychologisch plausibles und strukturell belastbares Modell, das unterschiedliche Modi von Konsum als Regulation beschreibt – differenziert nach Belastungsintensität, Selbststruktur und Kommunikationsresonanz.

6. Diskussion der Ergebnisse im Licht der Hypothesen

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie deuten auf einen tiefgreifenden Wandel der psychischen Voraussetzungen und motivationalen Strukturen des Konsumverhaltens hin. Insbesondere in Kontexten innerer Erschöpfung, affektiver Überlastung und psychischer Destabilisierung zeigen sich markante Verschiebungen im Erleben, Deuten und Vollziehen von Konsumhandlungen. Die Analyse der qualitativen Tiefeninterviews wie auch die Auswertung der quantitativen Skalenprofile legen nahe, dass sich Konsum unter diesen Bedingungen von einem instrumentellen Akt zur Bedürfnisbefriedigung hin zu einer symbolischen Handlung der affektiven Selbstregulation transformiert. Die vier in dieser Arbeit formulierten Hypothesen konnten dabei in weiten Teilen empirisch gestützt und differenziert interpretiert werden.

H1: Konsum als psychische Selbstregulation – nicht als Belohnung

Die Annahme, dass Konsum primär der Bedürfnisbefriedigung, dem Ausdruck individueller Präferenzen oder der hedonistischen Lustmaximierung dient, prägt weite Teile der klassischen Konsumforschung. Unter den Bedingungen innerer Stabilität, funktionierender Selbstregulation und sozialer Eingebundenheit mag dieses Paradigma tragfähig sein. Doch die vorliegenden empirischen Befunde – insbesondere unter dem Vorzeichen psychischer Erschöpfung, fragmentierter Selbststruktur und affektiver Überlastung – legen nahe, dass diese Sichtweise unzureichend ist.

Konsumhandlungen erscheinen in diesem psychischen Kontext nicht als Wahl, sondern als Notmaßnahme. Nicht als Lustverstärker, sondern als affektive Erstversorgung. Nicht als Entfaltung, sondern als Selbstrettung.

Die qualitative Tiefenanalyse offenbart eine wiederkehrende semantische Codierung von Konsumakten als psychische Schutzhandlungen. In narrativen Interviewpassagen beschreiben Befragte typische Konsumvorgänge nicht in den Kategorien von Neugier, Erfüllung oder Genuss, sondern mit Vokabeln wie:

  • „Ich musste einfach kurz was tun, um mich nicht aufzulösen.“
  • „Wenn ich einkaufe, ist das wie ein Haltegriff.“
  • „Das ist nichts Schönes, aber es hilft mir durch den Tag.“
  • „Ich brauche manchmal dieses eine Produkt, einfach weil es mich wieder zusammenbringt.“

Diese Aussagen verweisen auf eine affektiv-psychodynamische Bedeutungsdimension des Konsums, die weit über klassische funktionale oder identitätsbezogene Motive hinausgeht. Was hier beschrieben wird, ist ein psychisches Substitut für Resonanz, für innere Kohärenz, für soziale Spiegelung. In der Sprache der Selbstpsychologie nach Heinz Kohut (1977) kann dies als kompensatorischer Einsatz von Selbstobjekten verstanden werden: Der Konsumgegenstand oder die Marke übernimmt – temporär – die Rolle eines affektiv regulierenden Anderen, der in der Außenwelt stabilisiert, was im Inneren des Konsumenten zu zerfallen droht.

Markenprodukte, so zeigt sich, fungieren in diesen Situationen als affektive Anker, als symbolische Container, als Übergangsobjekte im Sinne Winnicotts (1971): nicht, um Freude zu erzeugen, sondern um Fragmentierung einzudämmen.

Diese qualitative Interpretation wird durch die quantitativen Ergebnisse eindrucksvoll gestützt. So zeigen sich in der Subgruppe mit hoher Belastung (identifiziert über die Perceived Stress Scale und die Difficulties in Emotion Regulation Scale) signifikant erhöhte Zustimmungswerte zu Aussagen wie:

  • „Ich konsumiere, um mich innerlich zu beruhigen.“
  • „Bestimmte Produkte geben mir das Gefühl von Kontrolle.“
  • „Wenn ich mich innerlich verloren fühle, kaufe ich, um wieder Boden unter den Füßen zu spüren.“

Die Korrelation zwischen psychischer Belastung und regulativem Konsum lag in mehreren Fällen über r = .45 (p < .01). Besonders ausgeprägt war der Zusammenhang bei Befragten, die gleichzeitig hohe Werte in der Subskala emotionale Klarheit (als Indikator für affektive Fragmentierung) und Vermeidung (als Bewältigungsstil) aufwiesen – ein Muster, das stark an Kohuts Konzept des narzisstischen Rückgriffs auf Selbstobjekte erinnert.

Die Ergebnisse legen nahe, dass die Kategorie „funktionaler Konsum“ in ihrer klassischen Definition (z. B. nützlich, zweckgerichtet, rational) nicht ausreicht, um das hier beobachtete Verhalten zu erklären. Denn die Funktion, die Konsum in diesen Fällen erfüllt, ist nicht primär utilitaristisch, sondern psychisch-affektiv:

  • Er reguliert emotionale Überforderung.
  • Er überbrückt innere Leere.
  • Er ersetzt entfallene zwischenmenschliche Spiegelung.
  • Er erzeugt (wenn auch temporär) ein Gefühl innerer Struktur.

Diese Dynamik lässt sich auch als externalisierte Selbstregulation beschreiben – ein psychodynamisch funktionales Verhalten, das auf die Abwesenheit innerer oder sozial vermittelter Selbsthaltungsmechanismen reagiert. Der Kaufakt wird zur symbolischen Selbstberuhigung – nicht, weil das Produkt „gebraucht“ wird, sondern weil der Vorgang psychisch konturierend wirkt.

Ein besonders interessanter Befund aus der qualitativen Analyse betrifft die zeitliche Codierung des Konsums. Viele Interviewte berichteten, dass Konsum in bestimmten Tagesphasen oder nach spezifischen emotionalen Belastungen auftritt – etwa nach Konflikten, im Anschluss an digitale Reizüberflutung, nach sozialer Isolation oder in Momenten von Unsicherheit. Der Konsumakt wird damit zu einem ritualisierten Regulationsmechanismus, der affektive Schwankungen nicht löst, sondern eindämmt. Er ist keine Antwort auf ein Begehren – sondern auf einen Mangel an innerer Verfasstheit.

Diese Beobachtungen stellen das dominante ökonomische Konsummodell vor erhebliche Herausforderungen. Wenn der primäre Motivator nicht das Begehren, sondern das Bedürfnis nach Selbstkohärenz ist, müssen Markenkommunikation, Produktgestaltung und Customer Experience vollständig neu gedacht werden. Marken, die weiterhin ausschließlich auf Emotionalisierung, Distinktion oder Begehrenssteigerung setzen, adressieren nicht das psychische Realitätsfeld ihrer Zielgruppen – sie kommunizieren in einem Modus, der unter Bedingungen innerer Instabilität als übergriffig, irrelevant oder sogar bedrohlich erlebt wird.

Was stattdessen gebraucht wird, sind Marken, die in der Lage sind, sich in die Affektstruktur ihrer Konsumenten einzufühlen – nicht durch Emotionalisierung, sondern durch psychische Verlässlichkeit.

Die vorliegenden Ergebnisse belegen, dass Konsum nicht mehr als Lusthandlung, sondern als Selbstbehandlung verstanden werden muss – als Ausdruck einer gestörten Resonanzbeziehung zur Welt, in der die Marke die Funktion eines affektiven Containers übernimmt. Dies eröffnet neue Perspektiven auf die Rolle von Marken in einer Zeit kollektiver Erschöpfung: nicht als Impulsgeber, sondern als psychologischer Resonanzraum. Nicht als Projektionsfläche für Selbstoptimierung, sondern als Ort symbolischer Re-Stabilisierung.

H2: Reaktanz statt Responsivität gegenüber überreizender Markenkommunikation

Die zweite Hypothese dieser Studie geht von einem zentralen Paradigmenwechsel aus: Klassisch werbewirksame Mittel wie Aktivierung, Emotionalisierung und imperativ formulierte Markenbotschaften verlieren unter Bedingungen psychischer Reizüberlastung und affektiver Instabilität nicht nur an Effektivität – sie erzeugen vielmehr das Gegenteil der intendierten Wirkung. Der ursprünglich geplante Aufbau von Aufmerksamkeit, Nähe oder Markensympathie schlägt um in affektive Abwehr, Rückzug oder offenen Widerstand. Die kommunikative Kontaktaufnahme der Marke wird in der psychischen Realität des Konsumenten nicht mehr als Einladung, sondern als Übergriff wahrgenommen.

Diese Reaktionslogik lässt sich zentral über zwei Theorieansätze herleiten und erklären:

Erstens über die psychologische Reaktanztheorie nach Jack Brehm (1966), die beschreibt, dass wahrgenommene Einschränkungen der Handlungs- oder Entscheidungsfreiheit zu einem motivationalen Widerstand führen. Je stärker sich ein Individuum in seiner Autonomie bedroht fühlt – etwa durch übergriffige, suggestive oder manipulative Kommunikation –, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer Gegenreaktion. In einem psychisch belasteten Kontext, wie er im postpandemischen Zustand häufig anzutreffen ist, wird diese Schwelle besonders niedrig: Die innere Fähigkeit zur Abgrenzung ist geschwächt, die Autonomiereflexe sind überempfindlich.

Zweitens über das Konzept der Affektlogik nach Luc Ciompi (1999), das beschreibt, wie emotionale Grundzustände die gesamte kognitive Verarbeitung, Wahrnehmung und Reaktionsstruktur modulieren. Hochaffektive Zustände – etwa Gereiztheit, Erschöpfung oder Überforderung – verändern die Interpretationslogik äußerer Reize fundamental. Was in einem ausgeglichenen psychischen Zustand als inspiriert, bewegend oder motivierend erlebt wird, erscheint in einem überladenen Affektmilieu als übergriffig, laut oder entgrenzend. Die kommunikative Absicht der Marke – etwa, Nähe herzustellen oder Relevanz zu signalisieren – wird in diesen Zuständen nicht mehr kongruent interpretiert, sondern in eine Bedrohung der psychischen Autonomie transformiert.

Die qualitative Interviewanalyse stützt diese These eindrucksvoll.

In fast allen Tiefeninterviews zeigten sich markante semantische Muster der Ablehnung gegenüber klassischer Markenkommunikation. Die häufigsten Zuschreibungen lauteten:

  • „zu viel“
  • „übergriffig“
  • „die schreien mich an“
  • „ich will das gar nicht fühlen“
  • „das fühlt sich manipulativ an“
  • „das ist wie Werbung gegen mich, nicht für mich“

Besonders deutlich wurde eine kommunikative Paradoxie: Während die Marken die Nähe suchten, empfanden die Befragten genau diese Nähe als psychische Invasion. Nähe, die nicht abgestimmt ist auf den inneren Zustand des Gegenübers, kippt in Bedrohung – ein Phänomen, das sich aus psychodynamischer Perspektive als fehlkalibrierte Resonanz beschreiben lässt.

Quantitativ konnten diese qualitativen Befunde bestätigt und weiter differenziert werden.

Im Rahmen der Stimulusbefragung wurden den Befragten Werbespots unterschiedlicher Reizintensität vorgelegt. Die Spots unterschieden sich insbesondere hinsichtlich Bilddichte, Sprachtempo, Emotionalisierung, Imperativstruktur und Sounddesign. Anschließend wurden Reaktanz, Akzeptanz, affektive Bewertung und Markenbindung gemessen – segmentiert nach psychischer Belastung.

Die Ergebnisse zeigen:

  • Personen mit hohen Werten auf der Digital Fatigue Scale und der DERS-Skala zur emotionalen Dysregulation wiesen deutlich erhöhte Reaktanzwerte gegenüber Spots mit hohem Reizniveau auf (M = 4.7 auf einer 6er-Skala vs. M = 2.3 in der Vergleichsgruppe; p < .001).
  • 78 % der Personen mit hoher affektiver Erschöpfung bewerteten imperativ formulierte Werbung mit Aussagen wie „Jetzt kaufen!“ oder „Du willst das auch!“ explizit negativ. Häufige Bewertungen lauteten „nervig“, „zu nah“, „nicht authentisch“ oder „macht mich unruhig“.
  • Spots mit zurückhaltender Tonalität, klarer Sprache und narrativer Struktur erhielten in derselben Gruppe deutlich höhere Resonanzwerte (Resonanzskala: M = 5.1 vs. M = 2.8; p < .001) – bei gleichzeitig deutlich reduzierter Reaktanz.

Diese Daten sprechen für eine klare, empirisch belegte Beziehung: Je höher die psychische Belastung und Reizempfindlichkeit, desto geringer die kommunikative Toleranz gegenüber klassischer Aktivierungslogik. Das bedeutet: Markenkommunikation trifft nicht auf ein neutrales Gegenüber, sondern auf einen emotional vorgeprägten, affektiv instabilen Konsumenten, dessen Wahrnehmungsmodus stärker defensiv als rezeptiv organisiert ist.

Die Implikationen für Markenführung sind tiefgreifend.

Die zentrale Lehre dieser Ergebnisse ist nicht, dass Emotionalisierung grundsätzlich schädlich sei – sondern, dass Emotionalisierung nicht als Einbahnstraße funktionieren darf. In einem affektiv sensiblen Kontext muss sie auf psychologische Anschlussfähigkeit, nicht auf maximale Aufmerksamkeit zielen. Markenkommunikation, die die psychische Ausgangslage der Konsumenten ignoriert, verliert nicht nur ihre Wirkung – sie gefährdet aktiv die Beziehung zur Marke. Sie wird nicht mehr als dialogisch, sondern als dysfunktional erlebt.

In einer digital gesättigten, emotional fragmentierten Konsumrealität gilt daher: Kommunikative Lautstärke erzeugt keine Wirkung, sondern Reaktanz – sofern sie nicht auf eine affektive Resonanzarchitektur abgestimmt ist.

Die vorliegenden Ergebnisse zeigen: Es braucht nicht mehr Emotionalisierung – sondern affektive Differenzierung. Nicht mehr „höher, schneller, lauter“ – sondern psychologisch feinfühlige Kommunikation, die nicht das Reizsystem des Konsumenten aktiviert, sondern dessen psychische Integrität achtet.

H3: Bindung durch psychische Zumutbarkeit – nicht durch Differenz

Die dritte Hypothese dieser Studie markiert einen Bruch mit zentralen Annahmen der klassischen Markenführung. Während etablierte Markenstrategien in Differenz, Aktivierung und emotionaler Überwältigung die Schlüssel zur Markenbindung sehen, legen die vorliegenden Ergebnisse nahe: In psychisch belasteten Zuständen entsteht Bindung nicht durch Überbietung – sondern durch Entlastung. Nicht durch Erregung – sondern durch Eindämmung. Nicht durch Dynamik – sondern durch affektive Ruhe.

In der qualitativen Auswertung der Interviews zeichnet sich ein konsistentes Muster ab: Marken, zu denen eine stabile emotionale Beziehung besteht, werden nicht als aufregend, neu oder herausfordernd beschrieben, sondern als psychisch regulierend. Typische Zuschreibungen lauten:

  • „Die sind einfach da, ohne etwas zu wollen.“
  • „Das ist vertraut, das beruhigt mich.“
  • „Da weiß ich, was ich kriege – und das reicht mir.“
  • „Das ist wie ein kleines Stück Normalität.“

Diese Formulierungen verweisen auf ein psychisches Funktionsverständnis von Marken, das sich klar von klassisch-kommunikativen Kategorien abgrenzt. Die Marke wird nicht als Differenzträger oder Identifikationsangebot wahrgenommen, sondern als symbolischer Ordnungsrahmen, als emotionales Containerobjekt, das fragmentierte Innenzustände stabilisiert, ohne sich aufzudrängen. In der Sprache der Objektbeziehungstheorie (Klein; Winnicott) entspricht dies der Funktion eines „transitional containment objects“ – eines vermittelnden Symbols, das in Phasen psychischer Unsicherheit oder Regression die Funktion eines „guten Objekts“ übernimmt: verlässlich, präsent, nicht fordernd, haltgebend.

Diese symbolische Haltefunktion ersetzt – zumindest temporär – soziale Resonanzräume, die in postpandemischen Lebenswelten vielfach dysfunktional geworden sind. Wo institutionelle Sicherheiten, soziale Rhythmen und körperlich vermittelte Beziehungsangebote nicht mehr greifen, übernehmen Marken (bewusst oder unbewusst) jene Funktion, die ursprünglich Elternfiguren, Gemeinschaften oder Rituale innehatten: Sie konturieren das psychische Feld, ordnen das Reizmilieu und bieten Wiedererkennbarkeit in einer Welt, die unübersichtlich geworden ist.

Die quantitativen Daten bestätigen diesen Befund eindrucksvoll. Auf Basis einer eigens entwickelten Markenresonanzskala wurden die emotionalen Reaktionen auf unterschiedliche Markenprofile erfasst – variiert nach Reizintensität, Tonalität, Storytelling-Stil und visueller Komplexität. Die Ergebnisse zeigen:

  • Personen mit hoher psychischer Belastung (erhoben u. a. über DERS und Perceived Stress Scale) wiesen signifikant höhere Bindungswerte gegenüber Marken mit niedrigem Reizpegel, konsistenter Tonalität und ruhiger Kommunikationsästhetik auf (M = 4.8 vs. M = 2.6; p < .001).
  • Die höchste Differenz in der Markenbindung zeigte sich bei Marken, die emotional beruhigende Sprachmuster („Wir sind da“, „Ganz in Ruhe genießen“) mit konturierter visueller Darstellung kombinierten – unabhängig von Produktkategorie oder Preisniveau.
  • Marken, die Differenz, Tempo oder performative Überlegenheit kommunizierten (z. B. „Schneller als alle anderen“, „Erlebe das Neue“, „Verpass es nicht“) wurden in dieser Zielgruppe signifikant distanzierter bewertet, häufig mit Kommentaren wie „zu viel“, „macht mich nervös“ oder „passt nicht in mein Leben“.

Diese Ergebnisse unterstreichen einen zentralen Befund: Bindung entsteht in psychisch belasteten Zielgruppen nicht über Differenz, sondern über Zumutbarkeit. Das bedeutet nicht, dass Innovation oder Charakter überflüssig wären – wohl aber, dass ihre kommunikative Inszenierung in einem Modus erfolgen muss, der die psychische Integrität des Gegenübers achtet. Markenbindung ist unter Bedingungen affektiver Instabilität keine Frage des Wow-Effekts, sondern der affektiven Ko-Regulation.

In einer Welt, in der das Außen zunehmend als unberechenbar erlebt wird, suchen Konsumenten nicht mehr nach Reizen, sondern nach Strukturen. Markenbindung entsteht dort, wo das Außen nicht als Druck, sondern als Raum erlebt wird. Wo eine Marke nicht fordert, sondern hält. Nicht antreibt, sondern beruhigt.

Psychische Zumutbarkeit wird damit zur neuen Währung der Markenführung. Eine Marke ist dann anschlussfähig, wenn sie nicht nur wahrgenommen, sondern ausgehalten werden kann – emotional, kognitiv, sozial. Das setzt eine kommunikative Ethik der Zurückhaltung voraus – eine Fähigkeit zur affektiven Resonanz, zur rhythmischen Abstimmung, zur narrativen Kohärenz.

Die vorliegenden Daten legen nahe: Die erfolgreichsten Marken der Zukunft sind nicht die lautesten, schnellsten oder originellsten – sondern die am besten regulierenden. Marken, die zu Containern für affektive Überforderung werden können. Marken, die in einer fragmentierten Welt symbolisch kohärent bleiben. Marken, die das psychische System nicht stimulieren, sondern strukturieren.

H4: Konsum als Ritual – nicht als Exploration

Die vierte Hypothese der Studie zielt auf eine fundamentale Neuinterpretation von Konsumverhalten in psychisch belasteten Kontexten: Konsumhandlungen sind unter Bedingungen chronischer Erschöpfung, affektiver Instabilität und innerer Fragmentierung weniger Ausdruck von Neugier, Lust oder Selbstverwirklichung – sondern repetitive Handlungen mit symbolischer Schutzfunktion. Sie dienen nicht der Erweiterung, sondern der Eindämmung der Welt. Nicht dem Erleben von Neuem, sondern dem Festhalten am Vertrauten.

Diese These wurde in den Tiefeninterviews in bemerkenswerter Klarheit bestätigt. Ein zentrales Muster war die Beschreibung von hochgradig ritualisierten Kaufgewohnheiten, die den Befragten offenbar als psychische Strukturstütze dienten. Aussagen wie:

  • „Ich kaufe immer dieselben Sachen, egal was im Angebot ist.“
  • „Ich gehe in denselben Laden, weil ich da nicht nachdenken muss.“
  • „Ich will beim Einkaufen einfach meine Ruhe.“
  • „Das ist so mein kleines Ritual – das brauche ich.“

weisen auf einen Konsummodus hin, der nicht aus Entscheidung, sondern aus Entlastung heraus vollzogen wird. Der Kaufakt selbst ist nicht Ziel eines Bedürfnisses, sondern Mittel zur Affektdämpfung – eine ritualisierte Geste, die Sicherheit und Wiedererkennbarkeit in einer überfordernden Welt vermittelt. In diesen Situationen ist nicht das Produkt entscheidend, sondern die Handlung als solche: vertraut, kontrollierbar, erwartbar.

Theoretisch lässt sich dieses Phänomen aus zwei Perspektiven begreifen:

Erstens über das Konzept der externalisierten Emotionsregulation (Gross; Gratz & Roemer). Konsum fungiert hier als externes Mittel zur Modulation eines inneren Zustands – ähnlich wie repetitive Bewegungen, Selbstberuhigungsgesten oder bestimmte sprachliche Routinen in Stresssituationen. Das Besondere am Konsumritual ist, dass es eine gesellschaftlich akzeptierte und sozial integrierte Form des Selbstschutzes darstellt: Die Handlung ist funktional, sichtbar, aber psychodynamisch motiviert.

Zweitens lässt sich dieses Verhalten aus der Perspektive der Affektlogik (Ciompi) interpretieren: In einem Zustand emotionaler Überreizung schaltet der kognitive Apparat auf Stabilitätssicherung um. Explorative Impulse – etwa neue Marken auszuprobieren oder bewusst konsumtive Abwechslung zu suchen – werden durch ein Sicherheitsbedürfnis überlagert. Die Handlung wird dadurch nicht irrational, sondern affektlogisch zweckrational: Sie dient dem Erhalt eines Minimums an psychischer Kohärenz.

Die quantitative Erhebung stützt diese qualitativen Deutungen. In der standardisierten Befragung wurden verschiedene Skalen zu emotionaler Reizverarbeitung, innerer Fragmentierung und Konsummotivation miteinander in Beziehung gesetzt. Die Ergebnisse zeigen:

  • Bei Befragten mit hoher Reizsensibilität (gemessen über eine eigens entwickelte Sensory Overload Scale) und stark ausgeprägter Affektfragmentierung (DERS) stieg das Bedürfnis nach wiederholbaren, einfachen und vertrauten Konsumakten signifikant an (r = .53, p < .01).
  • Gleichzeitig sank in dieser Gruppe die Bereitschaft zur konsumtiven Exploration – etwa das Ausprobieren neuer Produkte, Marken oder Verkaufsformate – signifikant ab (r = –.41, p < .01).
  • Besonders stark war dieser Effekt in stressnahen Situationen (z. B. nach einem Arbeitstag, nach Konflikten, bei Überforderungserleben): Der Konsumakt wurde als bewusst gesuchter Rückzugsraum beschrieben – nicht als spontane Entscheidung, sondern als emotionales Rückzugsritual.

Damit kann Konsum in affektiv belasteten Zuständen als semi-automatisierte Selbstvergewisserung interpretiert werden: eine Handlung, die nicht durch ein neues Bedürfnis ausgelöst wird, sondern durch das Fehlen innerer Ordnung. Der Konsument wählt nicht zwischen Optionen – er re-inszeniert einen vertrauten Ablauf, um sich selbst psychisch zu verankern.

Für die Markenführung ergeben sich daraus entscheidende Konsequenzen: Nicht Innovation oder Variation erzeugen Bindung in diesen Zuständen, sondern Wiedererkennbarkeit, Einfachheit und psychologische Kontinuität. Marken, die eine konsistente, unaufgeregte Präsenz zeigen, deren visuelle und sprachliche Codes stabil bleiben und deren Produktversprechen nicht überreizt sind, bieten in diesem Modus genau das, was gesucht wird: Vorhersehbarkeit in einer Welt emotionaler Unordnung.

Die vorliegenden Daten belegen damit, dass Konsum in vielen Fällen keine Wahlhandlung im klassischen Sinne ist – sondern eine stabilisierende Mikro-Routine, deren psychodynamische Bedeutung weit über die Produktfunktion hinausgeht. Das ritualisierte Konsumverhalten wird so zur Stellvertreterhandlung für verlorene Rhythmen, fragmentierte Beziehungen und ausbleibende Resonanz – ein symbolischer Akt, mit dem sich das Subjekt gegen das Chaos der äußeren Welt abschirmt.

In dieser Perspektive liegt die eigentliche Herausforderung für Marken: Nicht die Aufmerksamkeit zu gewinnen – sondern die Zumutung zu vermeiden. Nicht zu überraschen – sondern zu stabilisieren. Nicht zu differenzieren – sondern psychische Anschlussfähigkeit herzustellen.

7. Implikationen für Markenführung und Marketingkommunikation

Die vorliegenden Befunde legen nahe, dass sich der psychologische Kontext, in dem Markenkommunikation rezipiert und Konsumverhalten vollzogen wird, in den letzten Jahren tiefgreifend verändert hat. Die Pandemie, digitale Dauerverfügbarkeit, chronische Reizüberflutung und die Erosion sozialer und institutioneller Halterahmen haben zu einem Zustand kollektiver psychischer Instabilität geführt – der nicht pathologisch, wohl aber strukturprägend ist. In diesem Kontext erscheinen Konsumenten nicht als optimierende Entscheider, sondern als psychisch hochbeanspruchte Individuen, die nach affektiver Entlastung, Kontur und symbolischer Orientierung suchen.

Diese Erkenntnisse unterlaufen zentrale Paradigmen der klassischen Markenführung. Die Vorstellung, Markenbindung sei vor allem durch Reizintensität, Emotionalisierung, Differenzierung oder Erlebnisorientierung herstellbar, greift zu kurz – und wird unter Bedingungen psychischer Erschöpfung sogar dysfunktional. Vielmehr zeigt sich: Markenbindung entsteht dort, wo eine Marke psychisch zumutbar ist. Wo sie hält, statt zu reizen. Wo sie beruhigt, statt zu beanspruchen. Wo sie ritualisierbare Ordnung anbietet, statt disruptive Reize zu setzen.

Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich sechs zentrale Implikationen:

1. Von der Reizoptimierung zur Resonanzarchitektur

Markenkommunikation muss nicht länger nach dem Prinzip der maximalen Aktivierung gestaltet werden, sondern nach dem Modell affektiver Anschlussfähigkeit. Dies bedeutet: Kommunikation darf nicht eindringen, sondern andocken. Sie muss sich in ihrer Form (Tonalität, Bildsprache, Inszenierung) an das affektive Klima der Zielgruppe anschmiegen – nicht es überwinden. Resonanz entsteht, wenn Konsumenten sich nicht angesteuert, sondern gespiegelt fühlen.

2. Psychische Haltefunktion als Markenkern

Marken gewinnen an Wert, wenn sie als emotionale Container fungieren können: Sie bieten Stabilität, Sicherheit, Wiedererkennbarkeit und symbolische Konsistenz. Dies ist kein ästhetischer, sondern ein psychodynamischer Anspruch: Marken müssen als verlässliche Objekte in einem instabilen Alltag erlebt werden – als Raum, nicht als Appell. Dies betrifft nicht nur Produktinszenierung, sondern auch Customer Experience, Servicekultur und kommunikatives Verhalten in Krisensituationen.

3. Konsistenz statt Differenz

In einer Welt affektiver Desintegration ist nicht die differenzierende Einzigartigkeit der Marke entscheidend – sondern ihre affektive Konsistenz. Konsumenten, die ritualisierte Handlungsschemata suchen, brauchen nicht ständig Neues, sondern vertraute Erzählungen, ruhige Wiederkehr und psychisch strukturierte Einfachheit. Marken, die visuelle und sprachliche Wiedererkennbarkeit bieten, erzeugen mehr Bindung als solche, die ständig Aufmerksamkeit neu erfinden wollen.

4. Achtsamkeit statt Emotionalisierung

Die klassische Forderung nach emotional aufgeladener Werbung verliert unter Bedingungen psychischer Überforderung ihre Gültigkeit. Emotionalisierung kann zum Übergriff werden – insbesondere wenn sie imperativ, suggestiv oder dramatisch daherkommt. Markenkommunikation muss lernen, emotionale Nähe anzubieten, ohne sie zu erzwingen. Nicht „Du willst das“ – sondern „Wenn du willst, sind wir da“. Nicht FOMO – sondern Mitgefühl.

5. Neue Segmentierung nach psychischer Verfasstheit

Die Differenzierung von Zielgruppen darf sich nicht länger nur an soziodemografischen oder motivationalen Merkmalen orientieren, sondern muss die psychische Ausgangslage stärker berücksichtigen. Das erfordert neue Messinstrumente (z. B. psychische Reizverarbeitung, Fragmentierungsneigung, Affektbindung) sowie eine erweiterte Customer Journey, die nicht auf Funnel-Stufen, sondern auf psychodynamische Zustände abgestimmt ist: Überforderung, Rückzug, Suche nach Halt, Entlastung.

6. Relevanz durch Zumutbarkeit

Zukunftsfähige Markenstrategie bedeutet nicht, mehr Relevanz zu erzeugen – sondern Relevanz durch Zumutbarkeit zu ersetzen. Die Frage ist nicht: Wie werde ich bedeutend? Sondern: Wie werde ich erträglich, verständlich, ansprechbar in einer überreizten Welt? Marken, die sich dieser Herausforderung stellen, sind nicht weich oder belanglos – sie sind präzise in ihrer Zurückhaltung, verantwortlich in ihrer Ästhetik und partnerschaftlich in ihrer Ansprache.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Zumutbarkeit einer Marke wird zum neuen Maßstab ihrer Bindungsfähigkeit. Markenführung muss psychodynamisch werden – nicht im Sinne psychologischer Manipulation, sondern im Sinne affektiver Ethik. Es geht um nichts Geringeres als eine neue Verantwortung der Marke für die psychische Belastungslage ihrer Zielgruppe.

Diese Verantwortung beginnt mit Zuhören – und endet nicht bei der Kampagne, sondern betrifft das Selbstverständnis der Marke als Teil einer emotional erschöpften Kultur. Marken, die Resonanz erzeugen, sind nicht die lautesten – sondern die haltendsten. Nicht die, die Gefühle erzeugen, sondern die, die Gefühlen Raum geben. Nicht die, die überfordern, sondern die, die Ordnung anbieten.

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