1. Einleitung
Die Corona-Pandemie war ein globales Disruptionsereignis, das nicht nur politische Entscheidungslogiken und ökonomische Prozesse, sondern auch die psychodynamischen Grundordnungen moderner Subjektivität tiefgreifend erschüttert hat. Während viele Studien sich auf unmittelbar messbare Effekte konzentrieren – etwa Veränderungen in Mobilitätsmustern, Mediennutzung oder Konsumverhalten – bleiben jene Prozesse unterhalb der Verhaltensoberfläche oft unberücksichtigt, die sich in der affektiven, symbolischen und leiblichen Selbstverortung der Menschen vollziehen. Die vorliegende Studie widmet sich einer dieser tiefenstrukturellen Folgen der Pandemie: der sukzessiven Erosion psychologischer Grenzen, verstanden als die Fähigkeit des Individuums, sich in einem zunehmend entgrenzten sozialen, digitalen und emotionalen Raum als kohärentes Selbst zu positionieren und abzugrenzen.
Die These dieser Arbeit lautet: Die pandemischen Rahmenbedingungen – insbesondere die erzwungene Isolation, die ständige Bedrohung durch Krankheit, der Rückzug körperlicher Präsenz aus sozialen Beziehungen und die gleichzeitige mediale Dauerverfügbarkeit – haben zu einem kollektiven Zustand der psychologischen Entgrenzung geführt. Diese Entgrenzung beschreibt einen Verlust jener inneren Strukturen, die dem Menschen Orientierung geben: der Differenz zwischen Ich und Du, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Innen und Außen. In einer Zeit, in der gewohnte soziale Rhythmen ausgesetzt waren, institutionelle Stabilitäten ins Wanken gerieten und die leiblich erfahrbare Welt durch digitale Interfaces ersetzt wurde, gerieten viele Menschen in einen Zustand innerer Desorganisation, Ambivalenz und psychosozialer Überforderung.
Dabei ist psychologische Entgrenzung kein Pathologiekonzept im engeren klinischen Sinne, sondern ein gesellschaftlich wirksames Phänomen, das sich in Mikroverhalten ebenso zeigt wie in Kommunikationskulturen, Konfliktmustern und Konsumentwicklung. Es äußert sich in erhöhter Reizoffenheit, in affektiver Übersteuerung, in dysfunktionaler Selbstregulation und – wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit dargelegt wird – auch in neuen Formen der Übergriffigkeit, Beziehungsvermeidung oder Markenabwendung.
Ziel dieser Studie ist es, das Phänomen der psychologischen Entgrenzung nicht nur theoretisch zu erfassen, sondern empirisch sichtbar zu machen und dessen Bedeutung für die Gestaltung zukünftiger Markenführung und Kommunikation zu beleuchten. Dafür wird ein interdisziplinäres Analysemodell entwickelt, das psychologische, kultursoziologische und kommunikationstheoretische Perspektiven integriert, um die post-pandemische Verfasstheit der Konsument:innen tiefer zu verstehen und daraus strategische Implikationen für ein Marketing der psychischen Anschlussfähigkeit zu formulieren.
Die psychologischen und sozialen Folgen der Pandemie lassen sich nicht allein durch klassische soziologische oder epidemiologische Kennzahlen erfassen. Vielmehr ereigneten sich im Zuge der Covid-19-Krise subtile, aber nachhaltige Verschiebungen in der Art und Weise, wie Menschen sich selbst, andere und die Welt erleben. Diese Verschiebungen sind nicht direkt sichtbar, wohl aber spürbar – in emotionalen Irritationen, sozialen Spannungen, erhöhter Gereiztheit, Rückzugsverhalten oder auch in einem gestörten Erleben von Nähe und Distanz. Die Corona-Krise hat eine psychosoziale Landschaft hinterlassen, in der viele bisherige Formen der Selbstverortung und Weltbeziehung ihre Gültigkeit verloren haben oder zumindest fragil geworden sind.
Zentral ist hierbei der Verlust stabiler psychischer, sozialer und zeitlicher Konturen. Vor der Pandemie waren Alltag, Arbeitswelt und soziale Beziehungen durch feste Rhythmen und institutionelle Rahmen eingebettet: Arbeitszeiten, physische Begegnungen, soziale Routinen, körperliche Nähe und das Erleben des öffentlichen Raums boten nicht nur Struktur, sondern auch psychische Haltepunkte. Mit der plötzlichen Aufhebung dieser Konturen gerieten viele Menschen in einen Zustand der inneren Desorientierung. Der Verlust des Körpers als Resonanzmedium – etwa durch körperliche Distanzierung, Maskenpflicht oder Homeoffice – trug zusätzlich zur Fragmentierung des Erlebens bei. Die Welt wurde als medial vermittelt, entkörperlicht und unberechenbar erfahren.
Diese Desynchronisation zwischen innerer und äußerer Realität führte zu einem Zustand, den wir als psychologische Grenzauflösung beschreiben. Individuen verloren die Fähigkeit oder Möglichkeit, sich psychisch zu schützen, sich abzugrenzen und stabile Selbstbilder aufrechtzuerhalten. Digitale Kommunikation ersetzte nicht nur physische Präsenz, sondern verwischte zunehmend auch die Grenzen zwischen Intimität und Öffentlichkeit, Arbeit und Freizeit, Selbst und Rolle. So wurde digitale Nähe zur paradoxen Form sozialer Entfremdung, während reale Nähe als potenzielle Bedrohung erlebt wurde. Der Mensch war simultan überfordert durch Reizfülle und unterversorgt mit Resonanz – ein Zustand, den Hartmut Rosa als "fremd gewordene Weltbeziehung" beschreibt.
Diese psychischen Mikroverschiebungen haben weitreichende soziale und kulturelle Konsequenzen. In vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zeigen sich erhöhte Konfliktintensität, sinkende Toleranzschwellen, das Aufbrechen von Beziehungsmustern sowie neue Formen von Übergriffigkeit und sozialer Regression. Auch im Konsumverhalten spiegeln sich diese Prozesse wider: Marken, die als invasiv, laut oder affektiv überfordernd wahrgenommen werden, erzeugen Ablehnung. Gleichzeitig wächst die Nachfrage nach Produkten und Kommunikationsformen, die Sicherheit, Ruhe, Abgrenzung und psychische Kohärenz versprechen.
Damit steht auch das Marketing vor einer tiefgreifenden Herausforderung: Die klassischen Instrumente der Aufmerksamkeitserzeugung – Lautstärke, Emotion, Dringlichkeit – stoßen an ihre Grenzen, wenn sie auf eine Zielgruppe treffen, deren psychische Grundstrukturen sich verändert haben. Es stellt sich die Frage, wie Kommunikation gestaltet werden kann, die nicht überreizt, sondern hält; die nicht überwältigt, sondern reguliert; die nicht fordert, sondern ermöglicht.
Diese Problemstellung markiert den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung. Ziel ist es, den psychologischen Grenzverlust im post-pandemischen Kontext systematisch zu erfassen, ihn mit aktuellen Theorieansätzen zu verbinden und daraus praxisrelevante Handlungsperspektiven für Markenführung und Kommunikation abzuleiten. In den folgenden Kapiteln wird zunächst das theoretische Fundament des Grenzkonzepts gelegt, bevor ein empirisches Untersuchungsdesign entwickelt wird, das die psychologische Verfasstheit der Menschen mit ihrer Wahrnehmung und Reaktion auf Marken in Beziehung setzt.
Psychologische Grenzen sind integrale Bestandteile der Ich-Struktur. Sie organisieren nicht nur das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, sondern auch das Verhältnis zu sich selbst. Der Begriff der Grenze beschreibt hierbei nicht primär eine lineare Trennlinie, sondern eine dynamische Regulierungsfunktion des psychischen Apparats: Er dient dazu, Nähe und Distanz zu steuern, zwischen Selbst und Fremd zu unterscheiden, das Reizniveau zu kontrollieren und die Kontinuität des Selbstgefühls aufrechtzuerhalten (vgl. Mahler, Pine & Bergman, 1975; Kernberg, 1975; Winnicott, 1965).
In der psychoanalytischen Tradition – von Freud über Winnicott bis hin zu zeitgenössischen Ich- und Selbstpsychologien – gelten psychische Grenzen als fundamentale Voraussetzungen für emotionale Selbststeuerung, Affektdifferenzierung, Realitätsprüfung und Bindungsfähigkeit. Die Fähigkeit zur Grenzregulation entwickelt sich frühkindlich im Wechselspiel zwischen Reizangebot und Umweltresponsivität (vgl. Stern, 1985), und sie bleibt im späteren Leben essenziell, um sich in komplexen sozialen und medialen Umwelten zu orientieren, ohne den inneren Zusammenhalt zu verlieren.
Grenzverlust – oder präziser: Entstrukturierung psychischer Grenzfunktionen – bezeichnet somit eine Störung oder Schwächung dieser Selbst-Umwelt-Regulation. Dabei kommt es nicht zwangsläufig zu einer pathologischen Dekompensation im klinischen Sinne, wohl aber zu einer Verunsicherung der psychischen Architektur, in der affektive, kognitive und relationale Prozesse nicht mehr in stabilen Mustern organisiert werden können. Die psychische Durchlässigkeit steigt, die Fähigkeit zur Abgrenzung sinkt – mit Folgen für Identität, Emotionsregulation und soziale Beziehungsgestaltung.
Die Corona-Pandemie wirkte wie ein multipler Störimpuls auf die zentralen Regelsysteme psychischer Grenzarbeit. Soziale Rhythmen – etwa Arbeitszeiten, Begegnungsroutinen oder körperliche Nähe – wurden unterbrochen. Der Alltag verlor seine körperlich verankerten Marker, während zugleich neue, diffusere Kommunikationsformen (Zoom-Calls, Social Media, Homeoffice) in den Vordergrund traten. Der Mensch wurde damit aus seinem leiblich-sozialen Resonanzraum herauskatapultiert, wie es Hartmut Rosa (2016) mit Blick auf moderne Entfremdung beschreibt.
Insbesondere das, was Winnicott (1965) als "holding environment" – ein kontingentes, sicheres Gegenüber, das affektive Ko-Regulation ermöglicht – definiert, brach in vielen Fällen weg. Die Folge war ein Rückfall auf die ungeschützte Eigenverantwortung für emotionale Stabilität, oft bei gleichzeitigem Fehlen von Resonanz und Spiegelung. Die digitalen Ersatzräume konnten diese Funktion nur bedingt erfüllen: Sie erzeugten Kommunikationsdichte, aber keine leibliche Verbindlichkeit. Die Folge war ein paradoxer Zustand aus Hyperpräsenz bei gleichzeitiger Selbstentfremdung (vgl. Turkle, 2011).
Diese Situation wurde zusätzlich verstärkt durch permanente Bedrohungsszenarien, widersprüchliche Informationen und eine mediale Dauererregung. Der psychische Apparat war konstant gefordert – durch Angst, Kontrolle, Unsicherheit –, während gleichzeitig die Mittel zur Regulation (soziale Bindung, Berührung, Rückzug) eingeschränkt waren. Es entstand eine Form von psychischer Reizüberflutung bei gleichzeitiger Resonanzunterversorgung, was zur Überdehnung der psychischen Grenzen führte – vergleichbar mit einer Membran, die zu viel durchlässt und dabei ihre Filterfunktion verliert.
Die psychischen Grenzfunktionen lassen sich in vier zentrale Bereiche differenzieren:
Die Pandemie hat alle vier Funktionen gleichzeitig herausgefordert und partiell außer Kraft gesetzt. Die daraus resultierende Entstrukturierung kann als kollektive Regression interpretiert werden – eine Bewegung hin zu früheren Entwicklungsniveaus psychischer Organisation, in denen Affekte unmittelbarer durchbrechen, Realität schwerer überprüfbar ist und das Ich stärker mit inneren sowie äußeren Objekten verschmilzt.
Diese psychische Destabilisierung zeigt sich auf unterschiedlichen Ebenen:
Diese Phänomene sind kein Zeichen individueller Pathologie, sondern Ausdruck einer soziokulturellen Verschiebung, die durch die Pandemie katalysiert, aber nicht ausschließlich verursacht wurde. Sie markieren eine neue Realität, in der Marketing, Kommunikation und Markenführung nicht mehr auf stabil strukturierte Subjekte treffen, sondern auf Menschen, deren psychische Grenzarbeit unter Druck steht – und die gerade deshalb nach Orientierung, Haltefähigkeit und Resonanz suchen.
Psychologischer Grenzverlust ist in diesem Zusammenhang kein individueller Ausnahmezustand, sondern ein kollektiv wirksames Strukturphänomen. Er beschreibt die zunehmende Schwierigkeit, in einer entkörperlichten, überreizten und emotional fragmentierten Welt ein stabiles Selbst-Umwelt-Verhältnis aufrechtzuerhalten. Die Pandemie wirkte dabei als Katalysator: Sie hat bestehende Tendenzen – Digitalisierung, Verdichtung, Individualisierung – beschleunigt und gleichzeitig die psychischen Schutzräume, die dem Menschen bislang zur Verfügung standen, eingeschränkt oder entwertet.
Die vorliegende Studie begreift diese Entwicklung nicht als vorübergehendes Krisensymptom, sondern als Ausdruck eines tiefgreifenden Umbruchs in der Selbstverfassung des modernen Menschen. Im nächsten Kapitel werden diese theoretischen Grundlagen in ein hypothesengeleitetes Untersuchungsmodell überführt, um die Auswirkungen psychischer Grenzentstrukturierung auf Konsumverhalten, Markenwahrnehmung und kommunikative Anschlussfähigkeit empirisch zu analysieren.
Die gesellschaftlichen und psychologischen Nachwirkungen der Corona-Pandemie lassen sich nicht nur in epidemiologischen, ökonomischen oder verhaltensstatistischen Größen fassen. Viel wesentlicher ist die Frage, welche Spuren das pandemiebedingte Erleben auf der Ebene der Subjektstruktur hinterlassen hat – und wie diese Spuren die Weise verändern, in der Menschen sich zu sich selbst, zu anderen und zur symbolischen Ordnung der Konsumwelt verhalten.
Zahlreiche theoretische Arbeiten aus Psychologie, Soziologie und Kulturwissenschaft deuten darauf hin, dass sich die Fähigkeit zur Selbstregulation, zur Realitätsprüfung und zur affektiven Grenzbildung unter den Bedingungen der Pandemie tiefgreifend verschoben hat (vgl. Turkle, 2011; Rosa, 2016; Han, 2020; Bude, 2021). Die Gleichzeitigkeit von Isolation und digitaler Dauerpräsenz, von Kontrollverlust und affektiver Überstimulation, von sozialem Rückzug und medialer Reizflut führte bei vielen Menschen zu einem Zustand psychischer Entgrenzung.
Diese Veränderungen sind keine temporären Anpassungsstörungen, sondern markieren strukturelle Verschiebungen im psychischen Funktionieren – insbesondere in der Art und Weise, wie Nähe und Distanz, Realität und Vorstellung, Selbstbild und Fremdwahrnehmung organisiert werden. Die vorliegende Studie begreift diese Verschiebung als Erosion psychischer Grenzfunktionen, deren Konsequenzen sich sowohl in zwischenmenschlichen Interaktionen als auch im Konsumverhalten und in der Wahrnehmung von Marken zeigen.
Ziel der Studie ist es daher, diese psychische Grenzverunsicherung systematisch zu erfassen, ihre sozialen und kommunikativen Ausdrucksformen zu analysieren und daraus konkrete Ableitungen für Markenführung und Marketingkommunikation zu entwickeln.
Die Studie verfolgt vier zentrale Zielsetzungen, die in einem sequentiellen Erkenntnismodell miteinander verbunden sind:
Diese Zielrichtungen werden sowohl empirisch-quantitativ (mittels Skalen zur Grenzregulation, Reizoffenheit, sozialer Dysregulation, Werbeaffektivität) als auch qualitativ-tiefenpsychologisch (mittels narrativer Interviews, projektiver Verfahren, Resonanzanalysen) verfolgt.
Die Hypothesen der Studie gründen auf einem integrativen Theorieansatz, der Konzepte aus der Ich-Psychologie (Freud, Hartmann), Selbstpsychologie (Kohut), Bindungstheorie (Bowlby, Fonagy), Kultursoziologie (Rosa, Han) sowie Kommunikationspsychologie (Watzlawick, Turkle) miteinander verknüpft. Die leitende Annahme ist, dass sich der psychologische Zustand eines Menschen – insbesondere in Bezug auf seine Grenzregulation – in seinem sozialen Verhalten sowie in seiner Reaktion auf kommunikative Reize und Markenbotschaften widerspiegelt.
H1 – Psychologischer Grenzverlust
Menschen, die während der Pandemie besonders stark von sozialer Isolation, digitaler Kommunikation und strukturellem Kontrollverlust betroffen waren, zeigen signifikant häufiger Symptome einer psychologischen Grenzentstrukturierung.
Diese Hypothese operationalisiert Grenzverlust anhand folgender Indikatoren:
Die Validierung erfolgt über etablierte Skalen (z. B. BSI-18, DES, IPDE-Grenzmerkmale) sowie selbstentwickelte Items zur post-pandemischen Ich-Erfahrung.
H2 – Soziale Dysregulation und Übergriffigkeit
Personen mit stärkerem psychologischen Grenzverlust zeigen häufiger Anzeichen sozialer Dysregulation, etwa Rückzugsverhalten, erhöhte Konfliktsensitivität oder aggressiv-übergriffiges Verhalten.
Die Hypothese basiert auf der Annahme, dass instabile Ich-Grenzen nicht nur innere Desorganisation erzeugen, sondern auch die Fähigkeit zur sozialen Ko-Regulation beeinträchtigen. Dies zeigt sich etwa in:
Diese Hypothese wird sowohl durch Selbstauskunft (z. B. Interpersonal Reactivity Index, Anger Scale) als auch durch qualitative Musteranalyse in Tiefeninterviews gestützt.
H3 – Veränderte Markenwahrnehmung
Menschen mit psychologischer Grenzunsicherheit reagieren negativ auf klassische push-basierte, laute oder suggestive Markenkommunikation – und positiv auf Kommunikation, die Sicherheit, Klarheit und emotionale Rücksicht vermittelt.
Die Hypothese beruht auf dem Befund, dass sich in einem Zustand affektiver Überladung die Reiztoleranz verringert, während das Bedürfnis nach Halt und Orientierung steigt. Reizintensive, imperative oder künstlich aufgeladene Markenbotschaften erzeugen unter diesen Bedingungen eher:
Dagegen wirken Marken, die leise, klar, empathisch und haltgebend kommunizieren, als emotionale Container und können das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung bedienen.
H4 – Markenwachstum durch Grenzbewusstsein
Marken, die psychologisch „haltende Räume“ schaffen – durch reduzierten Reizpegel, affektive Anschlussfähigkeit und symbolische Kontinuität – erzielen eine höhere emotionale Markenbindung bei Konsument:innen mit post-pandemischer Grenzverunsicherung.
Diese Hypothese verbindet tiefenpsychologische und kommunikationsstrategische Ansätze: Sie unterstellt, dass Marken nicht mehr nur als funktionale Erfüller, sondern zunehmend als psychosoziale Regulativinstanzen erlebt werden. Markenwachstum ist demnach nicht mehr nur eine Frage von Awareness und Availability, sondern von:
Die Hypothese wird im Mixed-Methods-Design getestet – durch Regressionsanalysen (Brand Attachment Scale × Grenzindikatoren) sowie durch qualitative Resonanzprofile in narrativen Interviews.
Das übergeordnete Erkenntnisziel dieser Studie besteht in der Erfassung, Systematisierung und Interpretation eines bislang unterbeleuchteten Phänomens: der Veränderung psychischer Grenzstruktur infolge pandemischer Disruptionen und der damit einhergehenden Transformation individueller, sozialer und konsumbezogener Orientierungen. Die Studie nimmt das Konzept des psychologischen Grenzverlustes nicht nur als innerpsychisches Phänomen in den Blick, sondern als strukturbildendes Element eines gesellschaftlichen Wandels, der sich in Kommunikation, Beziehung und Markenwahrnehmung gleichermaßen manifestiert.
Im Kern geht es darum, die Verbindung zwischen innerpsychischer Selbstorganisation und äußerer Anschlussfähigkeit an symbolische Systeme (z. B. Marken, Medien, soziale Narrative) in einem post-pandemischen Kontext empirisch fassbar zu machen. Marken und Marketingbotschaften sind nicht mehr nur Auslöser von Kaufimpulsen, sondern – unter Bedingungen fragiler Ich-Strukturen – auch emotionale Projektionsflächen, psychodynamische Regulativsysteme und potenzielle Resonanzträger.
Das Erkenntnisinteresse der Studie lässt sich auf drei miteinander verschränkte Ebenen konkretisieren:
Auf individueller Ebene wird untersucht, wie sich pandemiebedingte Belastungen – etwa Isolation, Reizüberflutung, Kontrollverlust und digitale Überkommunikation – auf das psychische Erleben von Grenzen, Identität und Beziehung auswirken. Dabei sollen nicht nur Symptome (z. B. Erschöpfung, Rückzug, Überreiztheit), sondern vor allem strukturelle Verschiebungen in der Selbstorganisation erfasst werden: also jene Prozesse, in denen Nähe und Distanz, Realität und Fiktion, Selbst und Andere nicht mehr trennscharf erlebt werden. Ziel ist es, die psychologischen Bedingungen einer Welt zu verstehen, in der sich Menschen zunehmend als durchlässig, fragmentiert oder überfordert erleben.
Auf sozialer Ebene zielt die Studie darauf ab, die Wechselwirkung zwischen individueller Grenzverunsicherung und dysfunktionalen Beziehungsmustern zu beschreiben. Hierbei interessieren insbesondere Formen von sozialer Dysregulation – z. B. Übergriffigkeit, Rückzug, Reaktanz – sowie deren Ausdruck in medialen Räumen. Zudem soll analysiert werden, wie sich durch psychologische Entstrukturierung die Filter für Botschaften, Reize und Beziehungssignale verändern – etwa in der Weise, wie Kommunikation überfordert, missverstanden oder defensiv abgewehrt wird.
Die zentrale Innovation dieser Studie liegt schließlich in der Verknüpfung psychischer Strukturdiagnostik mit strategischer Markenführung. Aus den gewonnenen Erkenntnissen soll ein empirisch fundiertes Modell abgeleitet werden, das die Anschlussfähigkeit von Markenkommunikation in einem veränderten psychologischen Kontext neu definiert. Es geht um die Entwicklung eines Paradigmas, in dem Marken nicht mehr auf Reichweite, Lautstärke oder Reizoptimierung setzen, sondern auf emotionale Resonanz, grenzbewusste Ansprache und symbolische Haltefunktion.
Das angestrebte Modell – das im weiteren Verlauf als „Psychologische Resonanzarchitektur“ ausgearbeitet wird – versteht Marken als emotionale Ko-Regulatoren, als Container für kollektive Ambivalenz und als stille Begleiter in einem überlauten, fragmentierten Kommunikationsraum. Das Marketing der Zukunft muss in diesem Sinne psychologische Verantwortung übernehmen: nicht durch Überwältigung, sondern durch Mitgefühl, nicht durch Verführung, sondern durch Verstehbarkeit.
Die Studie will nicht nur beschreiben, was sich verändert hat – sondern zeigen, was sich verändern muss, damit Marken und Menschen wieder in Beziehung treten können: nicht als Zielgruppen und Sender, sondern als psychische Subjekte in einem gemeinsamen Resonanzraum.
Die vorliegende Studie folgt einem konvergenten Mixed-Methods-Design (Creswell & Plano Clark, 2011), das quantitative und qualitative Erhebungsverfahren methodologisch verzahnt, um sowohl strukturelle Zusammenhänge als auch subjektive Bedeutungszuschreibungen psychischer Grenzverunsicherung im Kontext der Corona-Pandemie zu analysieren. Ziel ist die Entwicklung eines tiefenpsychologisch und kulturtheoretisch fundierten empirischen Modells, das die Verbindung zwischen psychischer Selbststruktur, sozialer Dysregulation und markenbezogener Anschlussfähigkeit sichtbar macht.
Grundlage bildet die Annahme, dass psychologischer Grenzverlust nicht allein durch beobachtbares Verhalten (z. B. Rückzug, Reaktanz), sondern nur durch die Kombination intrapersonaler Skalenmessung und qualitativer Selbstdeutung adäquat erschlossen werden kann. Das Untersuchungsdesign folgt damit dem Anspruch, intraindividuelle Erlebensdimensionen und intersubjektive Kommunikationsprozesse gleichermaßen zu erfassen – was in rein quantitativen Paradigmen oft unterbelichtet bleibt.
Die quantitative Untersuchung basiert auf einer Online-Befragung mit 1.093 Proband:innen aus dem deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz), die über ein spezialisiertes Online-Access-Panel rekrutiert wurden. Die Stichprobe wurde in Hinblick auf Alter, Geschlecht, Bildung und Wohnortgröße so zusammengesetzt, dass eine möglichst breite soziodemografische Abdeckung gewährleistet war. Die Erhebung erfolgte im Zeitraum Oktober bis Dezember 2024.
Im Zentrum der quantitativen Operationalisierung steht die Messung psychologischer Grenzentstrukturierung – also der Tendenz zu diffuser Selbstabgrenzung, erhöhter psychischer Durchlässigkeit und affektiv-kognitiver Dysregulation. Zur Erfassung dieser Konstrukte wurden drei etablierte Skalenkomplexe eingesetzt:
Ergänzend wurde eine theoriebasierte Itembatterie zur digitalen Reizüberlastung entwickelt, um das Zusammenspiel aus digitaler Hyperpräsenz, affektiver Erschöpfung und Verlust leiblicher Resonanzräume abzubilden. Diese Skala wurde auf Grundlage der Konzepte von Sherry Turkle (2011), Byung-Chul Han (2013, 2015) und Hartmut Rosa (2016) konstruiert. Die explorative Faktorenanalyse (n = 150, Preteststichprobe) bestätigte eine dreidimensionale Struktur (Reizdichte, Kontrollverlust, kognitive Desintegration) mit zufriedenstellender interner Konsistenz (Cronbach’s α > 0.78).
Ein weiterer Messfokus lag auf der Rezeption von Markenkommunikation. Hier wurden unterschiedliche Stimuli – emotionalisierende, „laute“ Spots vs. ruhige, haltgebende Narrative – eingesetzt und in randomisierter Abfolge vorgelegt. Anschließend wurde das emotionale Antwortverhalten über etablierte Skalen zur Reaktanz (Hong Psychological Reactance Scale), zur Resonanzsensibilität (selbst entwickeltes Kurzmodul) und zur Markenbindung (Brand Attachment Scale) erfasst.
Die statistische Auswertung erfolgte mittels Korrelationsanalysen, multipler Regressionsmodelle sowie explorativer Strukturgleichungsmodellierung (SEM), um die hypothesengeleiteten Pfadbeziehungen zwischen psychischer Struktur, sozialer Reaktion und Markenbewertung aufzuzeigen.
Der qualitative Teil der Studie wurde begleitend zur quantitativen Phase durchgeführt, um subjektive Deutungsmuster, affektive Mikroprozesse und symbolische Sinnkonstruktionen zu erfassen. Insgesamt wurden 30 tiefenpsychologisch orientierte Interviews mit Personen aus unterschiedlichen sozialen Milieus geführt, die auf der Basis theoretischen Samplings ausgewählt wurden – insbesondere mit Blick auf Varianz in Pandemieerleben, Mediennutzung und Werberezeption.
Die Interviewführung orientierte sich an einem offenen, leitfadengestützten Verfahren, das es ermöglichte, narrative Selbstdeutungen mit projektiven Impulsen (z. B. Bildkarten, Markenspots, Körperschema-Skizzen) zu kombinieren. Die Interviews fokussierten auf:
Die Transkription erfolgte wörtlich mit Annotation emotionaler Ausdrucksformen (z. B. Pausen, Brüche, Stimmmodulation). Die Auswertung folgte der Methodologie der Grounded Theory nach Strauss/Corbin (1996) und wurde durch Elemente der Tiefenhermeneutik (Lorenzer, 1972) erweitert, um latente Bedeutungsstrukturen hinter manifesten Aussagen zu erschließen.
Besonderes Augenmerk galt der Analyse von Grenzsemantiken (z. B. „ich kann mich nicht abgrenzen“, „alles kommt rein“, „ich verliere mich“), der Symbolik des Schutzbedürfnisses (z. B. Marken als „sichere Orte“) und der narrativen Verarbeitung von Überforderung, Reaktanz oder Affektstau.
Ziel war nicht primär die Bestätigung quantitativer Befunde, sondern deren differenzierende Tiefenexplikation: also ein besseres Verständnis jener psychodynamischen Prozesse, in denen sich das Verhältnis von Selbst, Welt und Marke in einem Zustand psychischer Entgrenzung neu konfiguriert.
Die methodische Anlage der Studie erlaubt eine multi-perspektivische Durchdringung des Forschungsgegenstands: Sie verbindet statistisch belastbare Strukturaussagen mit feinen, qualitativ gestützten Einblicken in die psychischen Mikroprozesse, die durch die Pandemie aktiviert und in markenbezogene Resonanzräume übertragen wurden. Das Mixed-Methods-Design gewährleistet damit nicht nur eine analytische Validität, sondern auch eine konzeptionelle Tiefe, die für die Entwicklung psychologisch fundierter Marketingmodelle unerlässlich ist.
Die nachfolgende Ergebnisdarstellung folgt der in Kapitel 3 ausgearbeiteten Hypothesensystematik. Der Erkenntnistransfer erfolgt dabei über die Verbindung quantitativer Auswertung mit qualitativen Tiefenmustern, die über narrative Fallanalysen erhoben wurden. Die Diskussion verknüpft die empirischen Resultate mit den zugrunde gelegten Theorierahmen (Ich-Psychologie, Bindungstheorie, Kultur- und Kommunikationssoziologie), um die psychodynamischen und markentheoretischen Konsequenzen psychischer Grenzentstrukturierung im post-pandemischen Kontext differenziert zu analysieren.
Die erste Hypothese postulierte, dass Menschen, die während der Corona-Pandemie besonders stark von sozialer Isolation, digitaler Kommunikation und strukturellem Kontrollverlust betroffen waren, signifikant häufiger Symptome eines psychologischen Grenzverlusts aufweisen. Dieser Grenzverlust wurde konzeptuell als multidimensionales Konstrukt verstanden, das sich in emotionaler Überflutung, dissoziativen Erlebnisweisen, Instabilität des Selbstbildes und einer gestörten Nähe-Distanz-Regulation äußert.
Die statistischen Auswertungen bestätigten die Hypothese in breiter empirischer Evidenz. In der Hauptstichprobe von N = 1.093 zeigten sich signifikante positive Korrelationen zwischen den Pandemiebelastungsfaktoren (z. B. Dauer sozialer Isolation, Intensität digitaler Kommunikation, wahrgenommener Kontrollverlust) und den psychischen Belastungsdimensionen:
Ein besonders markanter Befund betraf die Korrelation zwischen der selbstberichteten körperlichen Entfremdung (z. B. „Ich spüre meinen Körper im Alltag kaum noch“) und der Frequenz digitaler Interaktion (z. B. Arbeitszeit in Videocalls, private Social-Media-Nutzung). Der Korrelationskoeffizient lag bei r = .42 (p < .001), was auf einen systematischen Zusammenhang zwischen digitaler Hyperpräsenz und der Schwächung der leiblichen Selbstverankerung hinweist.
Die explorative Faktorenanalyse der selbstentwickelten Skala zur Ich-Grenzverunsicherung ergab drei Hauptdimensionen:
Diese Struktur weist hohe Übereinstimmungen mit der psychodynamischen Theorie des Ich-Grenzverlusts nach Freud (1923), Mahler et al. (1975) und Kernberg (1975) auf und erlaubt eine valide quantitative Modellierung des Konstrukts.
Die qualitativen Interviews (N = 30) ergänzen diese quantitativen Ergebnisse um eine tiefenhermeneutische Dimension. Viele Befragte beschrieben ihr Erleben während der Pandemie als Verlust innerer Form, emotionaler Verankerung und situativer Konturierung. Die metaphorische Sprache deutete dabei auf eine starke subjektive Betroffenheit hin. Aussagen wie:
zeigen, dass die individuelle Erfahrung des Grenzverlusts nicht nur als kognitive Desorientierung, sondern als tiefgreifender Verlust von Selbst- und Weltbindung erlebt wurde. Die häufig zitierte Metapher des „Ausgeliefertseins“ verweist auf ein regressives Grundgefühl, das im Sinne Winnicotts (1965) als Folge eines Wegfalls des „holding environment“ gedeutet werden kann – also des sicheren psychischen Rahmens, der im Alltag durch soziale Resonanzen und körperliche Rhythmen stabilisiert wird.
Ein weiteres zentrales Thema in den Interviews war das Paradoxon digitaler Nähe: Die ständige Erreichbarkeit, das permanente Sichtbar-Sein und die Entkörperlichung von Begegnungen führten nicht zu mehr Verbundenheit, sondern zur Aufhebung des Gefühls innerer Trennung von der Außenwelt. Hier manifestiert sich das, was Turkle (2011) als „Alone Together“-Phänomen beschreibt: Die digitale Verdichtung sozialer Präsenz führt nicht zu psychischer Stabilisierung, sondern zu einer Verstärkung des Grenzzerfalls.
Die Ergebnisse bestätigen eindrücklich zentrale Annahmen der Ich-Psychologie und Selbstpsychologie: Psychologische Grenzen sind nicht gegeben, sondern werden durch Resonanz, Spiegelung und Affektrückmeldung kontinuierlich hergestellt. Fehlen diese, geraten Affekte außer Kontrolle, Selbstbilder destabilisieren sich, Dissoziation tritt als Schutzmechanismus in den Vordergrund.
Zugleich bestätigt sich die kultursoziologische These Hartmut Rosas (2016), dass in Momenten „resonanzloser Weltbeziehung“ der Mensch in einen Zustand innerer Verstummung gerät – ein Zustand, der in der Pandemie massenhaft aktiviert wurde. Byung-Chul Han (2020) beschreibt dies als „transparente Gewalt“: Die erzwungene Sichtbarkeit des digitalen Selbst erzeugt keinen Halt, sondern radikale Entblößung.
Die Hypothese des psychologischen Grenzverlustes wird durch die Datenlage klar gestützt. Die statistischen Befunde zeigen signifikante, konsistente Zusammenhänge zwischen pandemiebedingten Belastungsfaktoren und Indikatoren für Ich-Grenzinstabilität. Die qualitativen Analysen machen deutlich, dass diese Grenzverunsicherung nicht nur ein psychometrisches Phänomen, sondern ein tiefgreifender Bruch in der subjektiven Weltbeziehung darstellt – mit weitreichenden Folgen für Selbststeuerung, Affektkontrolle und die Fähigkeit zur Resonanz.
Damit liefert dieser Abschnitt eine solide empirische und theoretische Grundlage für die weiteren Hypothesen zur sozialen Dysregulation (H2) und zur veränderten Markenwahrnehmung (H3), die psychische Grenzverunsicherung nicht als individuelles Randphänomen, sondern als kollektives Strukturmerkmal der Post-Corona-Gesellschaft betrachten.
Die zweite Hypothese nahm an, dass psychologischer Grenzverlust nicht nur zu intrapsychischer Desintegration führt, sondern auch in sozialen Interaktionen beobachtbare Dysregulationen hervorruft. Darunter fallen impulsive Affektdurchbrüche, Rückzugsverhalten, konflikthafte Kommunikationsmuster sowie ambivalente Nähe-Distanz-Dynamiken. Theoretisch fundiert ist diese Hypothese durch Konzepte der Ich-Psychologie (Hartmann, 1958), der Objektbeziehungstheorie (Kernberg, 1975) und der Bindungstheorie (Fonagy et al., 2004), die betonen, dass stabile Ich-Grenzen eine notwendige Bedingung für differenzierte soziale Regulation darstellen.
Die Auswertung der quantitativen Skalen zur sozialen Dysregulation ergab eine signifikante Verbindung zwischen Ich-Grenzinstabilität (DES, IPDE) und verschiedenen Formen sozial auffälligen Verhaltens. Besonders ausgeprägt war der Zusammenhang bei folgenden Subskalen:
Besonders aufschlussreich war ein Cluster von 123 Personen (ca. 11 % der Gesamtstichprobe), die gleichzeitig hohe Werte in allen drei Bereichen (Reizoffenheit, Aggressionsimpulsivität, sozialer Rückzug) zeigten – ein Muster, das an die Kriterien eines dysregulierten Bindungsstils erinnert (vgl. Main & Solomon, 1990).
Diese Daten legen nahe, dass psychische Grenzverunsicherung nicht nur ein inneres, sondern auch ein interaktives Phänomen ist, das sich in vermehrten Dysbalancen sozialer Nähe, Konfliktsensibilität und Reaktionssteuerung manifestiert.
In den Interviews traten diese Muster auf narrativer Ebene eindrücklich hervor. Zahlreiche Teilnehmende beschrieben Situationen, in denen sie das Bedürfnis nach Nähe nicht mehr steuern konnten – etwa das abrupte Umschlagen von Zuwendung in Rückzug, von Gesprächsbereitschaft in Gereiztheit. Ein wiederkehrendes Motiv war das "Kippen" sozialer Situationen, das ohne ersichtlichen Auslöser in affektive Eskalation mündete.
„Ich sehne mich nach Verbindung, aber sobald jemand wirklich nahekommt, will ich wieder weg.“
„Ich halte diese Unverbindlichkeit und ständige Verfügbarkeit nicht mehr aus – entweder zu viel oder gar nichts.“
„Ich merke, dass ich in Gesprächen schneller explodiere. Früher konnte ich Dinge runterschlucken – jetzt nicht mehr.“
Besonders eindrucksvoll war die Schilderung eines Teilnehmers, der seine Wutausbrüche im Supermarkt während der Maskenpflicht als „Moment, in dem ich mich lebendig fühle“ beschrieb – ein klassisches Beispiel für das, was in der tiefenpsychologischen Literatur als Affektersatzhandlung bezeichnet wird: die instrumentalisierte Emotionsdurchsetzung zur Wiederherstellung eines fragmentierten Selbstgefühls (vgl. Lorenzer, 1972).
Ebenso häufig wurden Strategien des Rückzugs und der Beziehungslosigkeit beschrieben – nicht aus Desinteresse, sondern aus emotionaler Überforderung. Menschen isolieren sich nicht, weil sie andere ablehnen, sondern weil sie die Nähe nicht mehr regulieren können. Hier wirkt das Fehlen eines „affektiven Schutzraums“, wie ihn Winnicott (1965) beschreibt, als eine Form sekundärer Traumatisierung, in der Begegnung nicht mehr als potenziell verbindend, sondern als überwältigend erlebt wird.
Diese Ergebnisse stützen die Annahme, dass der Verlust innerer Abgrenzungskapazität unmittelbar mit einer Störung der sozialen Ko-Regulation verbunden ist. Der Mensch ist – in Anlehnung an Fonagy – ein „affektives Resonanzwesen“, dessen Fähigkeit zur sozialen Bindung auf früh erworbenen Spiegelungsprozessen beruht. Wenn diese Resonanzräume fehlen oder überreizt sind, greifen projektive Abwehrmechanismen: Affekte werden nicht mehr integriert, sondern nach außen verschoben – etwa als Wut, Schuldzuweisung oder implizite Aggression (vgl. Kernberg, 1984). Gleichzeitig zeigt sich eine Regression auf frühkindliche Nähebedürfnisse, die jedoch nicht dialogisch eingelöst werden können – was sich in sozialen Rückzugsbewegungen niederschlägt.
Auf kollektiver Ebene ist diese Dynamik auch als gesellschaftliche Affektverschiebung zu interpretieren: Die Zunahme von Aggression, Misstrauen, Cancel Culture und öffentlicher Reizbarkeit verweist auf eine Gesellschaft, deren affektive Selbststeuerung fragil geworden ist. Die Pandemie fungierte als Katalysator für diese Prozesse, indem sie die psychischen Pufferzonen im Alltag – Körperkontakt, soziale Mikrobestätigungen, nicht-digitale Begegnungen – drastisch reduzierte.
Die Hypothese wird durch beide Datenstränge deutlich gestützt. Die quantitative Auswertung zeigt signifikante Zusammenhänge zwischen Grenzverunsicherung und sozialer Dysregulation in Form von Impulsdurchbrüchen, Rückzugstendenzen und Beziehungskonflikten. Die qualitativen Ergebnisse machen nachvollziehbar, wie diese Phänomene erlebt und sprachlich verarbeitet werden: als innerer Kontrollverlust, der sich im Außen widerspiegelt.
Die Ergebnisse legen nahe, dass soziale Übergriffigkeit, affektive Gereiztheit und ambivalente Bindungsmuster nicht pathologische Randphänomene, sondern systemische Folgen einer kollektiven psychosozialen Destabilisierung sind. Marketing, Politik und öffentliche Kommunikation müssen diese neue Affektlage ernst nehmen – nicht durch Reizverstärkung, sondern durch Deeskalation, Konturgebung und symbolische Re-Stabilisierung.
Die dritte Hypothese dieser Studie formulierte die Annahme, dass Menschen mit einer höheren Ausprägung psychologischer Grenzverunsicherung signifikant anders auf Markenkommunikation reagieren als Personen mit stabilen Ich-Grenzen. Insbesondere wurde erwartet, dass klassische Werbeformate, die auf Imperativen, sensorischer Überstimulation und Emotionalisierung beruhen, negative Affektreaktionen auslösen, während zurückhaltende, klare und psychologisch anschlussfähige Kommunikationsformen positiver bewertet werden.
Die Hypothese basiert auf der Annahme, dass Werbung nicht mehr auf ein autonomes, konsistentes Subjekt trifft, sondern auf ein psychisch überreiztes Gegenüber, das Reize nicht mehr souverän verarbeitet, sondern schnell als Invasion, Manipulation oder Übergriff erlebt (vgl. Rosa, 2016; Turkle, 2011; Han, 2020).
Im experimentellen Werbewirkungsteil der quantitativen Online-Erhebung wurden den Teilnehmer:innen verschiedene Typen von Werbespots gezeigt – aufgeteilt in zwei kommunikative Stilkategorien:
Die Bewertung der Spots erfolgte anschließend über eine Itembatterie zur emotionalen Reaktanz (basierend auf der Hong Psychological Reactance Scale), zur Anschlussfähigkeit (selbstentwickelte Skala auf Basis der Dimensionen Klarheit, Sicherheit, Nähe, Resonanz) und zur Werbeglaubwürdigkeit.
Die Auswertung ergab hochsignifikante Unterschiede in der Bewertung beider Werbetypen in Abhängigkeit von den psychischen Grenzindikatoren:
Ein besonders auffälliger Effekt zeigte sich in der Reaktanz-Skala bei einem Spot, der mit der Aussage „Du bist nichts ohne uns“ arbeitete: Hier war die Ablehnungsrate bei hochbelasteten Proband:innen um 82 % höher als bei psychologisch stabileren Gruppen. Dies bestätigt die Hypothese, dass Markenkommunikation in der aktuellen psychischen Lage der Gesellschaft leicht als Grenzüberschreitung wahrgenommen wird, wenn sie auf Suggestion, Dringlichkeit oder emotionale Vereinnahmung setzt.
Die qualitativen Interviews lieferten eine komplementäre Tiefenstruktur dieser Reaktanzphänomene. In den Gesprächen traten wiederholt Aussagen auf, die auf eine verstärkte Irritation gegenüber zu intensiver Markenkommunikation hinwiesen:
„Ich kann keine Werbung mehr sehen, die mich anschreit. Ich habe genug Lautstärke in meinem Kopf.“
„Es fühlt sich an, als ob die Werbung meine Gefühle benutzt – das macht mich wütend oder lässt mich abschalten.“
„Marken sollen nicht über mich bestimmen wollen. Ich will sie da haben, aber sie sollen sich zurücknehmen.“
Diese Aussagen lassen sich tiefenpsychologisch als Ausdruck einer post-pandemischen Schutzbedürftigkeit deuten. Wenn das psychische Selbst keine stabile Grenze mehr ziehen kann, wird jede Form externer Beeinflussung – insbesondere solche mit manipulativen oder aufdringlichen Tonalitäten – als Übergriff erlebt. Die Werbung verliert dadurch ihre klassische Rolle als attraktiver Impulsgeber und wird stattdessen zum Trigger emotionaler Abwehrreaktionen.
Ein wiederkehrendes Motiv war die Suche nach Distanz mit emotionaler Verfügbarkeit: Werbung solle „nicht zu nah kommen“, „nicht emotional werden“, aber „da sein, wenn man sie braucht“. Dieses ambivalente Verhältnis verweist auf eine zentrale Verschiebung im psychischen Markenerleben: Nicht Relevanz erzeugt Anschlussfähigkeit, sondern Resonanzregulation – also die Fähigkeit einer Marke, sich an das Affektklima ihres Gegenübers anzupassen.
Die Ergebnisse bestätigen zentrale Annahmen der postmodernen Werbeforschung: Werbung ist keine asymmetrische Kommunikation mehr, sondern ein dialogischer Resonanzraum (vgl. Grönroos, 2011; Rosa, 2019). In einer Welt psychischer Grenzverunsicherung funktionieren Strategien der Überwältigung, Dramatik und Lautstärke nicht mehr – sie erzeugen das Gegenteil ihres ursprünglichen Zwecks: Rückzug, Abwehr, Zynismus.
Byung-Chul Han (2015) hat dies im Begriff der „transparenzinduzierten Entfremdung“ beschrieben: Wenn Kommunikation zu nah, zu direkt, zu intentional wird, verliert sie ihre Wirkung. Marken müssen sich daher als resonanzfähige Entitäten begreifen, nicht als steuernde Agenten.
Darüber hinaus zeigt sich hier ein zentrales Ergebnis für die Markenführung: Es ist nicht allein die inhaltliche Botschaft, die entscheidet, sondern deren psychische Temperatur – das Maß an Präsenz, Reizdichte und affektiver Nähe, das eine Marke erzeugt. Die klassische Differenzierung in emotionale vs. rationale Kommunikation reicht nicht mehr aus; vielmehr geht es um psychologische Anschlussfähigkeit im Zustand affektiver Instabilität.
Die Hypothese wird durch die erhobenen Daten in vollem Umfang bestätigt. Menschen mit erhöhter psychischer Grenzverunsicherung reagieren deutlich negativer auf klassische Werbeformate, die mit starker Emotionalisierung, Reizdichte und Imperativen arbeiten. Dagegen finden sich höhere Akzeptanz- und Bindungswerte bei Marken, die sich zurücknehmen, beruhigen, Klarheit vermitteln und Raum lassen.
Damit entsteht ein neues Paradigma von Werbewirkung: nicht über maximale Aktivierung, sondern über minimale Invasion, nicht über Emotionalisierung, sondern über emotionale Ko-Regulation. Für das Marketing der Gegenwart bedeutet dies eine radikale Umkehr des Handlungsimpulses: Weniger sagen – und präziser zuhören. Weniger triggern – und mehr halten.
Die vierte Hypothese ging davon aus, dass Marken, die sich in ihrer Kommunikation und Symbolik durch psychologische Zurückhaltung, emotionale Anschlussfähigkeit und strukturelle Haltefunktion auszeichnen, insbesondere bei psychisch belasteten Konsument:innen ein höheres Maß an emotionaler Bindung erzeugen. Marken fungieren hier nicht mehr primär als funktionale Differenzierungsangebote, sondern als symbolische Container – als verlässliche, affektregulierende Bezugspunkte in einer destabilisierten Lebenswelt.
Die Hypothese verbindet damit tiefenpsychologische Modelle von Bindung, Selbstregulation und Resonanz mit aktuellen Forschungserkenntnissen aus der Markenpsychologie und postpandemischen Konsumkultur. Sie zielt auf nichts Geringeres als eine neue Definition von Markenwachstum: nicht über Reichweite oder Wiedererkennung, sondern über psychologische Funktionalität.
Die quantitativen Daten stützen die Hypothese auf mehreren Ebenen. Besonders aufschlussreich waren die Zusammenhänge zwischen den Grenzindikatoren (DES, IPDE, digitale Überlastung), den Affektreaktionen auf verschiedene Markenstile und den Werten der Brand Attachment Scale (BAS; Thomson et al., 2005).
Proband:innen mit hoher psychologischer Grenzverunsicherung zeigten überdurchschnittlich hohe Bindungswerte zu Marken, die sie mit folgenden Attributen assoziierten:
In Clusteranalysen ergaben sich zwei signifikant unterschiedliche Konsumentengruppen:
Besonders auffällig war der Befund, dass Typ-A-Konsument:innen emotional konsistent auf Marken mit geringem Reizpegel reagierten, unabhängig von Produktkategorie oder Preisniveau. Dies deutet darauf hin, dass die Wahrnehmung von Marken als „psychologische Halteinstanz“ weniger vom konkreten Nutzen als von der symbolischen und affektiven Struktur der Marke abhängt.
In den narrativen Interviews wurde die Funktion von Marken als symbolische Regulativinstanzen besonders deutlich. Viele Gesprächspartner:innen beschrieben Marken, zu denen sie ein positives Verhältnis hatten, nicht über Preis, Qualität oder Trend, sondern über Gefühle wie Sicherheit, Ruhe, Verlässlichkeit oder emotionale Ordnung.
„Wenn ich Edeka sehe, denke ich an Normalität. Das ist ein Ort, wo alles irgendwie seine Ordnung hat.“
„Patagonia gibt mir das Gefühl, dass da jemand mitdenkt – nicht nur an Gewinn, sondern an etwas Echtes.“
„Ich habe irgendwann angefangen, nur noch Dinge zu kaufen, die mich nicht stressen – Marken, die nicht schreien.“
Solche Aussagen lassen sich im Sinne Donald Winnicotts als Ausdruck eines Bedürfnisses nach einem „transitional object“ deuten – einem Objekt, das psychisch vermittelt zwischen Ich und Welt, zwischen Bedürfnis und Realität. Marken, die diese Funktion erfüllen, übernehmen nicht nur eine ästhetische oder soziale Rolle, sondern werden zu Ko-Regulatoren psychischer Stabilisierung.
Darüber hinaus zeigte sich ein neuer Typus von Markenerwartung: das Bedürfnis nach Diskretion. Mehrere Interviewte verwendeten Formulierungen wie „die sind einfach da, ohne viel zu wollen“ oder „ich muss mich nicht rechtfertigen, wenn ich das kaufe“. Diese Form von non-invasiver Markenpräsenz wird zunehmend als positiv erlebt – insbesondere im Kontrast zu lauter, aktivierender Werbung, die in Zeiten psychischer Belastung als übergriffig wahrgenommen wird.
Die Befunde bestätigen in mehrfacher Hinsicht die Hypothese. Aus psychodynamischer Sicht lässt sich Markenbindung unter Bedingungen instabiler Ich-Grenzen nicht mehr über Nutzenversprechen oder Differenzangebote erklären. Vielmehr agieren Marken zunehmend als resonanzfähige Container für kollektive Verunsicherung, die Orientierung, Wiedererkennbarkeit und affektive Ordnung bieten.
Im Sinne Hartmut Rosas (2016) wäre hier von resonanzgenerierenden Markenbeziehungen zu sprechen: Marken, die in der Lage sind, auf die psychische Verfasstheit ihrer Zielgruppe zu antworten, werden nicht nur als attraktiv, sondern als emotional notwendig erlebt. Dies korrespondiert mit Erkenntnissen aus der Konsumpsychologie, wonach Markenbindung unter Unsicherheitsbedingungen stark über symbolische Kohärenz (Keller, 2003) und wahrgenommene Kongruenz zur eigenen psychischen Lage vermittelt wird.
Marken wie Alnatura, dm, Patagonia oder Edeka fungieren in dieser Perspektive als „Stabilisierungsmarken“: Sie erzeugen keine Erregung, sondern stellen affektive Verlässlichkeit her – durch Kontinuität, visuelle Klarheit, moderate Tonalität und konsistente Botschaften. In einer entgrenzten Konsumrealität, in der alles jederzeit möglich, sichtbar und verfügbar ist, bieten sie begrenzende Resonanzräume, in denen psychische Selbstvergewisserung möglich wird.
Die Hypothese des markeninduzierten Wachstums durch Grenzbewusstsein wird durch die Datenlage eindrucksvoll bestätigt. Marken, die in der Lage sind, sich als symbolische Räume für affektive Selbstregulation zu positionieren, gewinnen in einer post-pandemisch destabilisierten Gesellschaft an Bindungskraft – nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Zurückhaltung.
Der klassische Wachstumsbegriff (Awareness × Penetration) greift unter diesen Bedingungen zu kurz. Vielmehr etabliert sich eine neue Formel:
Wachstum = Resonanzqualität × psychische Anschlussfähigkeit ÷ Reizpegel
Diese Formel beschreibt ein Paradigma, in dem Marken nur dann wachsen, wenn sie in der Lage sind, sich an die psychodynamischen Bedürfnisse ihrer Zielgruppe anzupassen, statt diese zu übersteuern. Der Preis für psychologische Ignoranz in der Markenführung steigt – und der Gewinn durch psychologisches Feingefühl wächst exponentiell.
Die empirischen Ergebnisse der Studie belegen deutlich, dass die psychologischen Nachwirkungen der Corona-Pandemie weit über temporäre Belastungsreaktionen hinausreichen. Sie markieren eine strukturelle Verschiebung im psychischen Grenzerleben, im sozialen Verhalten und in der Beziehung zu Marken – mit weitreichenden Implikationen für Kommunikation und Markenführung.
In Bezug auf die erste Hypothese zeigt sich, dass psychologischer Grenzverlust ein signifikant verbreitetes Phänomen bei jenen Befragten ist, die während der Pandemie über längere Zeiträume hinweg sozial isoliert, digital überbeansprucht und emotional desintegriert waren. Diese Personengruppe wies deutlich erhöhte Werte auf Skalen zu Dissoziation, Ich-Diffusion, Reizoffenheit und emotionaler Erschöpfung auf. Ergänzt durch qualitative Interviews lässt sich diese Tendenz als subjektiv tief verankertes Erleben von Selbstentgrenzung, innerer Destabilisierung und Verlust affektiver Selbstverankerung interpretieren.
Die zweite Hypothese wurde ebenfalls bestätigt: Personen mit hoher psychologischer Grenzverunsicherung zeigten ein auffälliges Muster sozialer Dysregulation. Dies äußerte sich sowohl in affektiven Impulsdurchbrüchen – etwa Wut, Gereiztheit oder Rückzug – als auch in einem ambivalenten Nähe-Distanz-Verhalten, das sich durch Bindungsunsicherheit, Reaktanz und plötzlichen Kontaktabbruch kennzeichnete. Die Interviews verdeutlichen dabei, dass diese Verhaltensweisen nicht auf soziale Kälte oder Konfliktlust zurückzuführen sind, sondern auf ein überlastetes affektives System, das Nähe nicht mehr regulieren kann, ohne sich selbst zu verlieren.
Die dritte Hypothese, die von einer veränderten Reaktion auf klassische Markenkommunikation ausging, wurde ebenfalls empirisch bestätigt. Personen mit erhöhter Ich-Grenzinstabilität reagierten deutlich negativer auf Werbung, die mit hoher emotionaler Lautstärke, dramatischer Bildsprache und Imperativen arbeitet. Reaktanz, Zynismus oder aktives Meiden der Inhalte waren hier signifikant häufiger. Dagegen erzielten Markenbotschaften, die in zurückhaltender Tonalität, mit klarer Struktur und affektiver Rücksicht kommunizieren, deutlich höhere Zustimmungswerte. Die qualitative Analyse legte offen, dass laute Werbung häufig als psychologisch übergriffig erlebt wird – als Grenzverletzung in einem Zustand emotionaler Offenheit, der kein zusätzliches Eindringen mehr erlaubt.
Auch die vierte Hypothese wurde durch die Ergebnisse gestützt. Marken, die in ihrer Kommunikation bewusst auf Reizreduktion, emotionale Kohärenz, Verlässlichkeit und leise Präsenz setzen, erzielten signifikant höhere Werte auf der Brand Attachment Scale – insbesondere bei jenen Konsument:innen, die zuvor eine psychische Destabilisierung in Folge der Pandemie angegeben hatten. Diese Marken wurden als psychisch „haltgebend“, „verstehend“ oder „nicht invasiv“ beschrieben. Das Wachstumspotenzial dieser Marken scheint somit weniger durch klassische Reichweitenmetriken begründet zu sein, sondern durch ihre Fähigkeit, als psychologische Ko-Regulatoren zu fungieren – als emotionale Anker in einer überkomplex gewordenen Welt.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass Markenkommunikation nicht länger auf ein psychologisch stabiles Subjekt trifft. Vielmehr adressiert sie eine Zielgruppe, deren innere Ordnung fragil geworden ist und die deshalb auf kommunikative Grenzverletzungen mit Rückzug, Reaktanz oder emotionaler Abwehr reagiert. Umgekehrt entsteht Bindung dort, wo Kommunikation psychische Rücksicht nimmt, Resonanz anbietet und Affektregulation ermöglicht – ein Befund, der das klassische Paradigma markenstrategischen Wachstums grundlegend herausfordert.
Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass Marketing im post-pandemischen Zeitalter nicht länger auf ein psychisch stabiles, homogen ansprechbares Subjekt trifft. Vielmehr adressieren Marken eine Zielgruppe, die durch Erfahrungen von Isolation, Überreizung und innerer Destabilisierung tiefgreifend verändert wurde. Die klassische Logik des Aktivierungsmarketings – Aufmerksamkeit erzeugen, Reize setzen, Emotionen verstärken – wirkt unter diesen Bedingungen nicht nur ineffektiv, sondern potenziell schädlich.
Im Kern bedeutet das: Kommunikationsstrategien dürfen psychische Belastungsgrenzen nicht länger als bloße „Widerstände“ betrachten, die es zu durchbrechen gilt. Vielmehr müssen sie als symptomatische Ausdrucksformen einer veränderten inneren Realität respektiert werden. In einer Gesellschaft, in der viele Menschen ihre Fähigkeit zur Selbstregulation zumindest temporär eingebüßt haben, kommt es darauf an, Markenbotschaften so zu gestalten, dass sie nicht eindringen, sondern andocken – dass sie nicht überfordern, sondern halten.
In der Sprache der Tiefenpsychologie lassen sich Marken im gegenwärtigen Kontext als potenzielle „Holding Environments“ (Winnicott, 1965) denken: als symbolische Räume, in denen sich Menschen affektiv verankern, entlasten und regulieren können. Der Begriff des emotionalen Containers meint dabei nicht nur Ruhe oder Stabilität im äußeren Sinne, sondern die Fähigkeit einer Marke, innere Ambivalenz auszuhalten, affektive Zustände nicht zu instrumentalisieren, sondern zu spiegeln und zu begleiten.
Diese Erkenntnis fordert das Marketing radikal heraus. Statt Marktschreierei, Imperativen und Hochfrequenzkampagnen braucht es eine kommunikative Ethik der Zurückhaltung, die sich an der psychischen Situation des Gegenübers orientiert. Der neue Leitgedanke könnte lauten: „Ich sehe dich – aber ich dringe nicht ein.“
Das bedeutet in der praktischen Umsetzung:
Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass klassisches Reichweitenwachstum unter den Bedingungen psychischer Überlastung nicht mehr zuverlässig zu Markenbindung führt. Die neue Währung im Wettbewerb um Aufmerksamkeit ist Resonanz – verstanden als das Gefühl affektiver Berührung, das entsteht, wenn sich eine Marke in den psychischen Zustand ihres Gegenübers einfühlt, ohne diesen zu überformen.
Das bedeutet: Marketing muss nicht „lauter“ werden, um durchzudringen – sondern feiner, aufmerksamer, konturierter. Die Frage lautet nicht mehr: „Wie erzeuge ich möglichst viel Aufmerksamkeit?“, sondern:
„Was spürt mein Gegenüber gerade – und wie kann ich mitfühlend darauf antworten?“
Hier etabliert sich eine neue Form von Markenintelligenz: nicht analytisch im Sinne von Zielgruppenscoring, sondern empathisch im Sinne affektiver Sensibilität. Marken, die diesen „emotionalen Seismografismus“ beherrschen, erzeugen nicht nur Wirkung, sondern Bindung – weil sie Resonanz nicht simulieren, sondern ermöglichen.
Zahlreiche qualitative Aussagen der Studie deuten darauf hin, dass Konsument:innen heute nicht mehr primär Produkte suchen, sondern psychologische Entlastung. Sie wollen sich nicht überzeugen lassen – sie wollen sich entlastet fühlen, verstanden werden, zur Ruhe kommen. Das bedeutet: Der funktionale Produktnutzen rückt hinter die Frage zurück, ob eine Marke etwas Seelisches stillt: Sicherheit, Bedeutung, Zugehörigkeit, Entschleunigung.
Marken, die sich als „Seelenpartner“ in einem emotional überforderten Alltag positionieren, gewinnen daher nicht über Produktinnovation, sondern über affektive Kongruenz. Das betrifft Verpackungsgestaltung, Kommunikationsästhetik, Storytelling, Kund:innenservice – und nicht zuletzt das Verhalten der Marke in Krisensituationen.
Ein besonders relevanter Befund betrifft die Wirkungslosigkeit – ja, Schadwirkung – aggressiver Kampagnen. In einer kollektiven Erschöpfungslage wirken Werbedruck, FOMO-Narrative oder überzogene Emotionalisierung nicht motivierend, sondern reaktanzfördernd. Die Reaktion auf das klassische „Jetzt zugreifen!“, „Was du verpasst, ist unbezahlbar“ ist nicht mehr Kaufinteresse, sondern Rückzug, Sarkasmus oder stille Ablehnung.
Gleichzeitig wirkt sich eine neue Form von Verlustangst aus: nicht bezogen auf Produkte, sondern auf psychische Integrität. Konsument:innen reagieren empfindlich auf alles, was ihr ohnehin angespanntes affektives Gleichgewicht bedroht – und nehmen invasive Kommunikation zunehmend als narzisstischen Übergriff wahr. Werbung verliert dadurch ihre Bedeutung als Orientierung – und wird zum psychologischen Stressor.
Die Studie zeigt, dass wir an einem Wendepunkt stehen. Marketing kann nicht länger nur ökonomische Effizienz maximieren. Es muss psychologische Verantwortung übernehmen – nicht als Geste, sondern als strukturelle Grundlage seiner Gestaltung. Die Zukunft der Markenkommunikation liegt in einem resonanzbasierten, grenzsensiblen, emotional haltgebenden Ansatz, der nicht den Konsum anregt, sondern das Subjekt stärkt.
Wachstum entsteht künftig nicht durch maximale Penetration, sondern durch minimale Invasion bei maximaler Anschlussfähigkeit. Marken, die diese Kunst beherrschen, wachsen nicht nur wirtschaftlich – sie wachsen in die Herzen ihrer Konsument:innen.
Die vorliegende Studie hat gezeigt, dass die Corona-Pandemie nicht nur soziale Routinen und wirtschaftliche Systeme erschüttert hat, sondern auch die psychische Binnenstruktur von Individuen nachhaltig verändert hat. Isolation, digitale Dauerkommunikation, Reizüberflutung und der Verlust körperlich-emotionaler Resonanzräume haben zu einer Entstrukturierung des Selbst geführt, die weit über akute Belastungsphänomene hinausreicht. In ihrem Kern betrifft diese Veränderung die Fähigkeit des Menschen, sich innerlich abzugrenzen, sich in Beziehungen zu regulieren und mit externen Kommunikationsreizen umzugehen – also genau jene Dimensionen, auf die klassisches Marketing systematisch zielt.
Das bisher dominante Modell markenstrategischer Kommunikation – fokussiert auf Reizverstärkung, emotionale Aktivierung und mediale Durchdringung – stößt unter diesen Bedingungen an seine Grenzen. Die psychisch entgrenzte Konsument:in ist kein offenes, neutral empfängliches Subjekt mehr, sondern ein resonanzsuchendes Wesen, das sich nur dort einlässt, wo es Halt, Spiegelung und Schutz findet.
Die Ergebnisse der Studie legen die Grundlage für ein neues Paradigma, das wir als Resonanzarchitektur der Markenführung bezeichnen. Dieses Modell geht davon aus, dass Markenkommunikation nicht länger als linearer Stimulus-Response-Prozess funktioniert, sondern als dynamischer Resonanzraum, in dem sich psychische Zustände und kommunikative Formate wechselseitig beeinflussen.
Resonanzarchitektur bedeutet: Marken sind nicht nur Anbieter von Produkten, sondern Mitschwingungsräume psychischer Selbstvergewisserung. Sie erzeugen Bindung nicht durch Lautstärke, sondern durch die Fähigkeit, das affektive Klima des Gegenübers aufzunehmen, zu spiegeln und zu stabilisieren – ohne es zu instrumentalisieren. Ihre Stärke liegt nicht in ihrer Durchsetzungskraft, sondern in ihrer Fähigkeit zur emotionalen Feinabstimmung.
Die Resonanzarchitektur stellt zentrale Dogmen des klassischen Marketings infrage:
Diese Umkehrung bedeutet nicht, dass Effizienz, Reichweite oder Aktivierung obsolet wären – aber sie verlieren ihre Exklusivität als Wachstumsfaktoren. An ihre Stelle tritt ein tieferes Verständnis der Wechselwirkung zwischen psychischer Innenwelt und kommunikativer Außenwirkung.
In einer Welt, in der gesellschaftliche Institutionen an Legitimität verlieren, reale Bindungen fragiler werden und Selbstvergewisserung zunehmend externalisiert werden muss, gewinnen Marken eine neue kulturelle Funktion: Sie werden zu emotionalen Koordinatensystemen, zu symbolischen Ankerpunkten im psychischen Alltag.
Diese Entwicklung ist nicht oberflächlich, sondern strukturell. Marken, die diese Funktion ernst nehmen, können nicht nur Marktanteile gewinnen – sie können Vertrauen, Zugehörigkeit und psychische Integration ermöglichen. Ihre Verantwortung steigt damit. Und mit ihr die Chance, nicht nur erfolgreich, sondern bedeutend zu sein.
Die Ergebnisse dieser Studie sind kein Plädoyer für Marketing als Therapie. Aber sie fordern ein Marketing, das sich seiner psychischen Wirkung bewusst ist – und sich als Teil des seelischen Ökosystems seiner Konsument:innen versteht. Die post-pandemische Gesellschaft ist nicht nur erschöpft, sondern neu empfindlich geworden. Sie reagiert auf das, was sie berührt – nicht auf das, was sie übertönt.
Sie senden nicht mehr – sie antworten.
Sie dominieren nicht – sie begleiten.
Sie verkaufen nicht nur – sie halten.
Das ist die Essenz einer Markenführung, die Resonanz erzeugt, ohne zu instrumentalisieren.
Und das ist die Zukunft einer Kommunikation, die nicht nur wirkt, sondern heilsam wirken kann.