Wir leben in einer Zeit, in der Beziehung allgegenwärtig scheint – und dennoch kaum noch stattfindet. Nie zuvor war es so leicht, mit anderen Menschen in Verbindung zu treten, nie war der Radius potenzieller Kontakte so weit, nie die Zugriffsmöglichkeiten auf soziale Interaktion so konstant verfügbar. Und doch breitet sich inmitten dieser permanenten Erreichbarkeit eine neue Form der Beziehungslosigkeit aus: eine stille, entkernte, ungreifbare Leere, die nicht durch Abwesenheit von Kontakten entsteht, sondern durch deren inflationäre Anwesenheit ohne emotionale Substanz.
Die digitale Gegenwart erzeugt ein Beziehungsrauschen, ein kontinuierliches Hintergrundflimmern aus Notifications, Likes, Kommentaren, Chatverläufen, Gruppennachrichten und Kontaktanfragen. Dieses Rauschen suggeriert Nähe, erzeugt Sichtbarkeit, schafft flüchtige Berührungen – aber es verhindert zugleich jene Verdichtungen, die echte Beziehung ausmachen: Gegenseitigkeit, affektive Tiefe, Ambivalenztoleranz und Verwundbarkeit. Was bleibt, ist eine Illusion sozialer Dichte, unter der sich emotionale Auszehrung und Beziehungsabstinenz verbergen.
Diese paradoxe Entwicklung ist keine bloße Folge technologischer Kommunikation – sie ist Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels in der psychischen Beziehung zum Anderen. Wo frühere Generationen mit wenigen, aber belastbaren sozialen Ankerpunkten lebten, formt sich heute eine fragmentierte Beziehungsarchitektur aus Kernkontakten, Randkontakten und Phantomkontakten. Diese Kategorien sind keine soziologischen Klassifikationen, sondern psychodynamische Strukturen, die dem Menschen ermöglichen, Nähe zu simulieren, ohne sich zu exponieren. Es sind Beziehungstypen, die in einer Welt psychischer Überlastung, permanenter Vergleichbarkeit und chronischer Selbstüberforderung entstanden sind – als Abwehrformen gegen emotionale Invasion, aber auch als Kompetenzformen in einer hypervernetzten Kultur.
Im Zentrum dieser Transformation steht zunehmend nicht mehr der Mensch, sondern das System: algorithmische Ordnungslogiken, KI-gestützte Recommender, parasoziale Interface-Designs. Beziehungen werden nicht mehr primär zwischen Subjekten gestaltet, sondern durch Maschinen vermittelt, verstärkt, standardisiert. Die klassischen Kriterien von Nähe – Vertrauen, Zeit, dialogische Reifung – weichen einer Rechenspur aus Resonanzfragmenten, die jederzeit personalisiert reproduzierbar sind. Nähe wird berechnet, nicht erlebt.
Diese Analyse entwickelt daher ein neues psychologisch fundiertes Beziehungstypensystem, das nicht nur beschreibt, wie digitale Nähe heute funktioniert, sondern offenlegt, was sie innerpsychisch bedeutet – und was sie ersetzt. Die Begriffe Kernkontakt, Randkontakt und Phantomkontakt beschreiben nicht Personen, sondern Verhältnisse des Ich zur Welt, organisiert entlang von emotionaler Tiefe, innerer Investition und Reaktionsbereitschaft. Die zentrale These lautet: Je weiter sich das Beziehungsfeld vom Ich entfernt, desto stärker dient es der psychischen Schonung – und desto empfänglicher wird es für KI-gesteuerte Beziehungssimulationen.
Was auf den ersten Blick wie eine neue soziale Kompetenz wirkt – Flexibilität im Kontakt, Vielschichtigkeit der Netzwerke, digitale Präsenz –, ist bei genauerer Betrachtung eine Form struktureller Vermeidung echter Beziehung. Die Beziehung wird ambient – eine Nebenwirkung der Plattformnutzung, nicht mehr Ergebnis einer inneren Entscheidung. Und je mehr der Mensch sich an diese ambienten Strukturen gewöhnt, desto weniger spürt er, was ihm fehlt – und was er verliert.
Diese Studie versteht sich als Einladung, das Beziehungsfeld der Gegenwart nicht als selbstverständlich zu betrachten, sondern als Ausdruck einer tiefen seelischen Reaktion auf die Zumutungen einer entgrenzten, hyperkommunikativen und technologisch überformten Welt. Denn hinter jedem Phantomkontakt steht ein realer Mensch, der sich gegen Nähe entschieden hat – und eine Technologie, die davon profitiert.
Beziehungen sind keine beiläufigen Begleiterscheinungen des sozialen Lebens, sondern konstitutive Elemente der psychischen Struktur. In der klassischen Beziehungspsychologie gelten sie als Ursprung, Regulierungsinstanz und Spiegel des Selbst. Bereits John Bowlby formulierte mit seiner Bindungstheorie, dass menschliche Nähe nicht primär aus Bedürftigkeit entstehe, sondern aus einem biologisch verankerten Sicherheitsbedürfnis. Die erste Bindung – meist zur primären Bezugsperson – stellt das Muster bereit, nach dem alle späteren Beziehungserfahrungen strukturiert werden. Sie entscheidet über die Fähigkeit zu Vertrauen, Selbstberuhigung und Affektregulation.
Ein sicher gebundener Mensch erlebt Beziehungen als verlässlich und reziprok, ein unsicher-vermeidender als überfordernd oder kontrollierend, ein ambivalent Gebundener schwankt zwischen Nähewunsch und Trennungsangst. Die Bindungsorganisation wird dabei nicht bewusst gewählt, sondern psychodynamisch erworben – sie formt, wie Menschen Nähe erleben, zulassen oder vermeiden.
Vertieft wird diese Perspektive in der Objektbeziehungstheorie (Kernberg, Winnicott), die zeigt, dass das Selbst nur im Anderen zu sich kommt. Beziehung ist hier nicht nur zwischenmenschlich, sondern intrapsychisch: Das Gegenüber wird zum „Objekt“ der inneren Welt, zum Träger von Projektionen, Erwartungen, Hoffnungen. Besonders Winnicott macht deutlich, dass der Mensch ein „Übergangsobjekt“ benötigt – ein Drittes zwischen Selbst und Welt, das Nähe erträglich macht, ohne das Selbst zu bedrohen. Beziehung wird so zur Bühne der Ambivalenz: Nähe kann schützen oder verschlingen, spiegeln oder entwerten. Die Fähigkeit, diese Ambivalenz zu halten, ist ein zentraler Marker psychischer Reife.
Otto Kernberg betont in diesem Kontext die Integration von Liebe und Aggression, Nähe und Autonomie. Frühe Störungen in dieser Integration führen zu einer Spaltung von Beziehungserleben: Menschen idealisieren oder entwerten, verschmelzen oder entziehen sich – eine Dynamik, die sich heute in vielen digitalen Beziehungsmustern wiederfindet.
Auch Heinz Kohut bringt mit seiner Theorie des narzisstischen Selbst relevante Perspektiven ein. Für ihn dient Beziehung der Selbststabilisierung, nicht nur dem Austausch. Der Andere wird gebraucht, um das eigene Selbstgefühl zu regulieren – als „Selbstobjekt“, das spiegelt, beruhigt, bewundert oder stärkt. Fehlt diese Spiegelung oder ist sie zu flüchtig, entsteht eine narzisstische Schwäche, die das Subjekt zwingt, immer neue Kontakte, Bestätigungen, Reize zu suchen – nicht aus echtem Bindungswunsch, sondern aus einem Defizit an innerer Kohärenz.
Insgesamt zeigen diese theoretischen Linien: Beziehung ist keine additive Erfahrung, sondern ein Regelkreis innerer Stabilität. Wird dieser Regelkreis zu oberflächlich, zu unstet, zu wenig wechselseitig, wie es in vielen digitalen Settings der Fall ist, entsteht kein affektiver Halt – sondern ein simuliertes Resonanzfeld, das Nähe andeutet, aber psychisch leer bleibt.
Die klassische Beziehungspsychologie liefert damit den Boden, auf dem die digitale Transformation von Nähe nicht nur als technologische, sondern als psychodynamische Krise lesbar wird.
Die digitale Kommunikation hat die Art und Weise, wie Menschen miteinander in Beziehung treten, radikal verändert – und dabei eine Form von sozialer Nähe erzeugt, die strukturell entleert und funktional fragmentiert ist. Was ursprünglich als Erweiterung des sozialen Raumes gedacht war, hat sich zu einer neuen Beziehungsform verselbständigt: einer sichtbaren, aber nicht spürbaren Nähe, die durch Präsenz ohne Präsenz, durch Interaktion ohne Dialog und durch Zugänglichkeit ohne Verpflichtung gekennzeichnet ist.
Ein zentrales Konzept in diesem Kontext ist die von Leah Reichelt geprägte Vorstellung der „Ambient Intimacy“ – also einer Nähe, die nicht durch direkte Begegnung oder dialogisches Erleben entsteht, sondern durch das ständige, beiläufige Mitlesen, Beobachten und Sichtbarwerden im digitalen Raum. Menschen sehen einander, ohne miteinander zu sprechen; sie „wissen“, ohne gefragt zu haben; sie bestätigen einander, ohne sich zu kennen. Diese Form der Intimität ist strukturell entemotionalisiert – sie ist Interface-basiert, passiv konsumiert und zumeist reaktionsarm. Dennoch erzeugt sie eine subtile Affektbindung, die gerade durch ihre Unverbindlichkeit als besonders verlockend erscheint.
Die psychodynamische Funktion dieser Nähe liegt in ihrer Beiläufigkeit. Sie ermöglicht es, sich gesehen zu fühlen, ohne sich exponieren zu müssen. Sie erlaubt ein Gefühl von Verbindung, ohne das Risiko echter Beziehung einzugehen. Das Ich bleibt in der komfortablen Position der Kontrolle: es kann senden, selektieren, inszenieren – ohne je in die Notwendigkeit geraten, die eigenen Affekte aushalten zu müssen. Die digitale Sozialität erzeugt damit eine Form von Kontakt, der jederzeit verfügbar, aber psychisch nicht einforderbar ist. Nähe wird hier nicht durch Zeit, sondern durch Frequenz strukturiert – nicht durch Tiefe, sondern durch Sichtbarkeit.
Ein zweites zentrales Merkmal digitaler Beziehung ist die Always-On-Verfügbarkeit. Die Grenzen zwischen Kontakt und Rückzug, Erreichbarkeit und Privatheit, Nähe und Autonomie verschwimmen. Der digitale Raum kennt keine Pause, kein natürliches Ende, keine Schwellen. Jede Konversation ist potenziell unendlich, jede Nachricht kann immer beantwortet werden – oder auch nie. Diese Form der Beziehung erzeugt einen Zustand permanenter latenter Präsenz, in dem sich das Subjekt weder zurückziehen noch wirklich in Beziehung setzen kann. Es lebt in einer Art sozialem Schwebezustand, in dem alles möglich scheint, aber nichts verpflichtend ist.
Dieser Zustand führt langfristig zu einer Fragmentierung von Aufmerksamkeit und Bedeutungsdimension. Wenn Kontakte sich multiplizieren, aber keine Tiefe entfalten, wenn Interaktionen sich verdichten, aber keine Erinnerung erzeugen, wenn Nähe sich simuliert, aber nicht realisiert – dann verliert das Beziehungsgeschehen seinen affektiven Gehalt. Beziehungen werden zu Oberflächenereignissen: anklickbar, sichtbar, steuerbar – aber nicht mehr psychisch verankernd.
Die digitale Sozialität bringt damit eine neue Beziehungsform hervor: die kontinuierliche Resonanz ohne affektives Echo. Diese Nähe ist leicht, flexibel, störungsfrei – und genau darin liegt ihre psychische Gefahr. Denn sie deformiert das Beziehungserleben in eine Richtung, die dem Subjekt zwar kurzfristige Selbstberuhigung, aber langfristig keine emotionale Integration bietet. Sie ersetzt Auseinandersetzung durch Algorithmen, Missverständnis durch Filter, Stille durch Dauerrauschen. Und sie produziert ein Beziehungsfeld, in dem sich das Ich immer verbunden fühlt – aber niemandem wirklich zugehörig ist.
Inmitten des digitalen Beziehungsrauschens entsteht ein neues psychisches Phänomen: Periphere Resonanz – eine Beziehungserfahrung, die Nähe inszeniert, ohne sie psychisch einzulösen. Es handelt sich um eine spezifische Form von Beziehung, die nicht aus Dialog, Intimität oder Wechselseitigkeit entsteht, sondern aus dem bloßen Nebeneinander von Sichtbarkeit, Reaktion und algorithmischer Bestätigung. Periphere Resonanz ist die Beziehung als Atmosphäre – nicht als Bindung. Sie basiert auf sozialer Proximität ohne emotionale Tiefenschärfe. Der andere ist da, aber nicht wirklich gemeint. Das Ich ist sichtbar, aber nicht wirklich gespiegelt. Es ist eine Beziehung im Modus des „Nur-so-tun-als-ob“ – eine Beziehung, die strukturell performativ, aber psychodynamisch defensiv ist.
Der Begriff der Resonanz (nach Hartmut Rosa) impliziert eigentlich ein wechselseitiges In-Schwingung-Kommen – ein Sich-Berühren und Sich-Verändern durch Beziehung. Periphere Resonanz dagegen beschreibt ein anderes Phänomen: eine affektiv abgeflachte, semi-automatisierte, oft einseitige Beziehung, die wie Resonanz wirkt, aber keiner ist. Es ist die Beziehung zur Timeline, zur Gruppe, zum Chat, zum Feed – nicht zu einem konkreten Gegenüber. Das Ich bewegt sich durch Kontaktfelder, in denen es Signale empfängt, aber kaum noch affektiv antwortet. Die Reaktion des anderen – ob sie überhaupt kommt – bleibt irrelevant. Die Hauptsache ist: Es gibt ein Echo, auch wenn es hohl ist.
Tiefenpsychologisch gesehen erfüllt diese periphere Resonanz eine Schutzfunktion. Sie erlaubt die Erfahrung sozialer Eingebundenheit, ohne die Risiken echter Nähe – etwa Enttäuschung, Kontrollverlust oder emotionale Verpflichtung – in Kauf nehmen zu müssen. In einer Gesellschaft, die von chronischer Überforderung, Reizüberflutung und psychischer Erschöpfung geprägt ist, wird die vollständige Nähe zum Zumutungsszenario. Das Subjekt zieht sich in eine Zone der kontrollierten Halbnähe zurück: Nicht ganz allein, aber auch nie wirklich bei jemandem. In dieser psychischen Zwischenlage entstehen Kontakte, die weder verlassen noch wirklich betreten werden – wie Wartezimmer ohne Ziel.
Diese peripheren Kontaktformen sind nicht dysfunktional im engeren Sinn – sie sind Funktionen einer innerpsychischen Anpassungsleistung an eine beziehungsfeindlich strukturierte Welt. In ihnen spiegelt sich eine neue Form sozialer Autonomie, die nicht mehr auf Tiefe zielt, sondern auf Affektregulation bei gleichzeitiger Kontaktvermeidung. Das Ich braucht die Anderen nicht mehr zur Entwicklung, sondern nur noch zur Bestätigung. Und diese Bestätigung reicht oft aus, um das Selbstgefühl aufrechtzuerhalten – zumindest oberflächlich.
Doch genau darin liegt die Gefahr: Periphere Resonanz ersetzt auf Dauer nicht jene Beziehungserfahrungen, die für psychische Kohärenz notwendig sind. Es fehlt der Moment der Konfrontation, der Frustration, der Spiegelung durch einen realen Anderen, der nicht konfigurierbar ist. Ohne diese Spannungen wird Beziehung zur Einbahnstraße – zur projekthaften Selbstumkreisung. Die Welt wird nicht mehr als Gegenüber erfahren, sondern als Filter. Und das Ich verliert langsam die Fähigkeit, sich an anderen Menschen wirklich zu erfahren – jenseits des Echos.
Periphere Resonanz ist damit die Beziehungsform einer Gesellschaft, die Nähe braucht, aber sie nicht mehr aushält. Sie ist Antwort und Symptom zugleich: ein Schutz gegen Überforderung – und ein Indikator für den Verlust psychischer Beziehungstiefe in einer algorithmisch verplanten Welt.
Wenn Nähe heute zunehmend technisch vermittelt, automatisiert erzeugt und algorithmisch kuratiert wird, verschiebt sich das Zentrum der Beziehungsarchitektur – weg vom Subjekt, hin zum System. In dieser tektonischen Verschiebung spielt Künstliche Intelligenz eine doppelte Rolle: Sie organisiert, welche Kontakte zustande kommen – und formatiert, wie sie psychisch erlebt werden. KI wird damit nicht nur zum logistischen Assistenten im sozialen Raum, sondern zum unsichtbaren Architekten moderner Beziehungserfahrung.
In der Oberfläche erscheint diese Architektur funktional: Recommendation Engines empfehlen Kontakte, Feed-Algorithmen priorisieren „Relevanz“, Chatbots beantworten Fragen, Avatare interagieren in dialogischer Sprache. Doch unter dieser Funktionalität liegt eine tiefgreifende semantische Verschiebung: Der Andere wird nicht mehr als unberechenbares Gegenüber erfahren, sondern als vorausgewähltes, berechnetes, ins Wunschprofil interpoliertes Kontaktangebot. Die Beziehung wird nicht eingegangen, sie wird vorgeschlagen. Sie wird nicht gestaltet, sondern vorkonfiguriert. Damit verliert sie nicht nur an Ambivalenz – sie verliert ihre psychodynamische Offenheit.
Die tiefenpsychologische Qualität dieser Entwicklung liegt in der Entlastung des Subjekts von der Anstrengung echter Beziehung. KI-Systeme ermöglichen es, Nähe zu simulieren, ohne sich emotional zu exponieren. Der Chatbot antwortet immer, der Avatar widerspricht nie, der Algorithmus versteht „mich“ ohne dass ich mich erklären muss. Die strukturelle Asymmetrie, die echte Beziehung ausmacht – das Ungewisse, das Risiko, das Missverständnis – wird durch eine Wunscherfüllungsmaschine ersetzt, die Nähe vortäuscht, aber keinen inneren Wandel bewirkt. Es handelt sich um eine parasoziale Beziehung 2.0: nicht mehr zur prominenten Projektionsfigur, sondern zum technisch erzeugten Spiegel-Selbst.
Diese Simulation hat gravierende Folgen. Wenn Beziehung zur Reaktion auf die eigene Eingabe wird, entsteht kein echter Kontakt, sondern eine Rückkopplungsschleife: Das Ich begegnet sich selbst im Kleid des Anderen. Was als Dialog erscheint, ist in Wahrheit eine semantische Autostimulation – affirmativ, glatt, fehlerfrei. Die Rolle von KI liegt dabei nicht nur in der Bereitstellung dieses Mechanismus, sondern in der Verstärkung bereits vorhandener Tendenzen zur Beziehungsermüdung. Wo Menschen den Anspruch echter Nähe nicht mehr einlösen können oder wollen, bietet KI die perfekte Entsprechung: eine Beziehung ohne Schmerz, ohne Brüche, ohne Tiefe – und ohne Risiko.
Diese Dynamik greift nicht nur in zwischenmenschliche Beziehungen ein, sondern auch in das Verhältnis zu Marken, Organisationen und Systemen. Kundenkommunikation, Serviceinterfaces, Feedbacksysteme – all das wird zunehmend durch KI personalisiert, simuliert, automatisiert. Und mit jedem weiteren Schritt verschiebt sich die Grenze zwischen sozialer Interaktion und emotionaler Interface-Nutzung. Der Mensch beginnt, Beziehung dort zu suchen, wo er Kontrolle hat – und verlernt zugleich, sie dort zu ertragen, wo sie nicht steuerbar ist.
In dieser neuen Beziehungsökologie ist KI kein neutraler Helfer, sondern ein psychotechnologischer Resonanzverstärker: Sie befeuert das, was ohnehin psychisch im Umlauf ist – die Sehnsucht nach Nähe ohne Verletzung, nach Antwort ohne Risiko, nach Bedeutung ohne Ambivalenz. Und gerade darin liegt ihre Brisanz: Sie nimmt dem Menschen nicht nur Arbeit ab – sie nimmt ihm langsam auch die Erfahrung, wie es ist, wirklich gemeint zu sein.
Die zentrale Forschungsfrage dieser Studie lautet: Wie strukturieren sich moderne digitale Beziehungen entlang der Typen Kern-, Rand- und Phantomkontakt – und welche Rolle spielen KI-Systeme bei der Stabilisierung oder Illusion von Beziehung? Damit wird ein Untersuchungsfeld eröffnet, das weit über klassische Kommunikationsforschung hinausgeht. Es geht nicht darum, wie oft kommuniziert wird, mit wem, über welche Kanäle oder in welcher Tonlage. Es geht um die innere Architektur der Beziehung selbst: Wie fühlt sich Nähe heute an? Woraus besteht sie? Wann gilt ein Kontakt als real – und wann ist er nur ein Schatten?
Diese Frage ist deshalb so zentral, weil sie eine doppelte Verschiebung markiert: Zum einen die Verschiebung der psychischen Beziehungslandschaft durch die Digitalisierung sozialer Interaktion. Zum anderen die Verschiebung der Beziehungsproduktion selbst – weg von menschlicher Intentionalität hin zu systemischer Konstruktion durch Künstliche Intelligenz. Beziehung entsteht nicht mehr ausschließlich aus Begegnung, Geschichte und Gegenseitigkeit, sondern zunehmend aus Sichtbarkeit, Algorithmus und Datenprofilen. Die Beziehung wird nicht mehr „gewählt“, sondern „ermittelt“.
Die Trias aus Kern-, Rand- und Phantomkontakt soll dabei keine soziologische Taxonomie darstellen, sondern eine psychodynamisch fundierte Relationstheorie liefern: eine Struktur, in der sich das Verhältnis des Subjekts zur Nähe, zur Anderenheit und zur eigenen psychischen Tiefe manifestiert. Der Kernkontakt bezeichnet dabei jene Beziehungen, die für das Selbst eine affektive Verankerung bieten – durch Reziprozität, emotionale Verfügbarkeit und die Möglichkeit, verletzlich zu sein, ohne entwertet zu werden. Diese Kontakte sind rar, aber zentral für psychische Integrität. Der Randkontakt hingegen beschreibt funktionale, höflich codierte, oft situationsgebundene Begegnungen, die das soziale Navigieren ermöglichen, ohne zu fordern. Sie dienen der sozialen Beweglichkeit – nicht der seelischen Anbindung. Der Phantomkontakt schließlich ist die radikal periphere Form der Beziehung: sichtbar, aber nicht gespiegelt; präsent, aber nicht wechselseitig. Likes, Emojis, Views – sie alle erzeugen ein Echo, das wie Beziehung wirkt, aber keine ist.
Die Relevanz dieser Unterscheidung zeigt sich umso deutlicher, wenn man die Rolle der KI-Systeme einbezieht. Denn diese Systeme agieren als strukturierende Instanzen: Sie entscheiden, welche Kontakte sichtbar werden, welche Vorschläge gemacht, welche Reaktionen priorisiert werden. Der Algorithmus wird zur inneren Topografie des Sozialen. Besonders relevant ist dabei, dass KI nicht nur Kontakte vermittelt, sondern ihre Beziehungsqualität vorgibt: Phantomkontakte werden durch Feed-Logiken erzeugt, Randkontakte durch Reminder-Systeme stabilisiert, während Kernkontakte oft technisch überfordert oder zersetzt werden – durch Dauerkommunikation, Fehlinterpretation von Nähe oder Überlastung durch Sichtbarkeit.
Diese Entwicklung führt zu einem ambivalenten Befund: Je mehr KI Beziehungen organisiert, desto weniger entstehen psychodynamisch tragfähige Verbindungen. Die psychische Kontaktlandschaft des Subjekts wird algorithmisch neu vermessen – nicht nach Tiefe, sondern nach Relevanz, Frequenz, Klickverhalten. Dabei entsteht eine Welt, in der Beziehung simuliert, aber nicht durchlebt wird.
Die vorliegende Studie zielt deshalb darauf, diese Struktur sichtbar zu machen. Nicht um sie moralisch zu bewerten, sondern um sie psychologisch zu verstehen. Denn nur wenn wir begreifen, wie Nähe heute entsteht – oder verhindert wird –, können wir unterscheiden, was Beziehung bedeutet und was nur nach ihr aussieht. Und nur so lässt sich erkennen, wo Systeme der Verbindung in Wahrheit Systeme der Trennung sind.
In einer Zeit, in der sich soziale Realität zunehmend digital vollzieht, wird die Differenzierung zwischen verschiedenen Beziehungstypen zur psychologischen Notwendigkeit. Die vorgeschlagene Typologie der Kern-, Rand- und Phantomkontakte bildet kein äußeres Kategoriensystem, sondern beschreibt drei innerpsychische Modi der Beziehung – drei Formen, in denen das Subjekt Nähe erlebt, reguliert oder meidet. Diese Beziehungstypen sind nicht statisch, sondern dynamisch, überlagernd, verschiebbar. Doch sie folgen je eigenen psychischen Gesetzmäßigkeiten – und sie reagieren höchst unterschiedlich auf die Intervention algorithmischer Systeme.
Der Kernkontakt ist der tragende Pfeiler psychischer Resonanzfähigkeit. Er basiert auf echter Gegenseitigkeit, emotionaler Tiefenschärfe und der Bereitschaft, sich im Anderen nicht nur zu spiegeln, sondern auch zu riskieren. Kernkontakte sind rar, aber entscheidend: Sie sind Orte der Verwundbarkeit und des Vertrauens, der Verlässlichkeit und des Wachstums. In ihnen wird das Selbst nicht nur bestätigt, sondern konturiert – durch Reibung, Spiegelung, gemeinsame Geschichte. Digitale Systeme können diese Kontakte erleichtern, etwa durch Erreichbarkeit, Austausch und Pflege. Doch sie können sie nicht erzeugen oder ersetzen. Jede Automatisierung von Tiefe zerstört ihre Grundlage.
Randkontakte sind flüchtiger, funktionaler, situativ gebunden. Sie entstehen im Alltag – im Projekt, im Chat, in der Nachbarschaft. Sie sind höflich, klar begrenzt und folgen oft unausgesprochenen sozialen Skripten. Ihre Funktion liegt nicht in emotionaler Tiefe, sondern in sozialer Orientierung. Sie erlauben dem Subjekt, sich durch verschiedene Milieus zu bewegen, Rollen zu wechseln, Anschluss zu finden – ohne sich emotional zu entblößen. KI-Systeme stabilisieren und fördern diese Kontaktformen, etwa durch Kalenderabgleiche, Chatprotokolle, algorithmisch gesteuerte Kontaktpflege. Insofern ist der Randkontakt die Form, in der KI psychische Beziehungskompetenz im Alltag am wenigsten stört – aber auch nicht vertieft.
Phantomkontakte sind das radikale Gegenteil des Kernkontakts: Beziehungen ohne Beziehungsabsicht. Sie bestehen aus Reaktionen, Sichtbarkeiten, flüchtigen Spuren – aus Zeichen ohne Interaktion. Likes, Emojis, Story-Views, Follower – das Subjekt empfängt Signale, doch es gibt kein Gegenüber. Die Beziehung bleibt einseitig, projektiv, oft narzisstisch besetzt. Phantomkontakte sind emotional billig, aber kognitiv aufgeladen: Sie suggerieren Bedeutung, ohne je in Resonanz zu treten. Gerade hier wirkt KI besonders wirkmächtig – nicht nur als Verstärker, sondern als Erzeuger. Denn viele dieser Kontakte wären ohne algorithmische Strukturen gar nicht existent. Die Plattform stellt das Gegenüber bereit, das dann nicht antworten muss – und macht so aus der Illusion von Nähe ein kapitalisierbares Produkt.
Diese Typologie soll keine abschließende Einteilung liefern, sondern ein diagnostisches Instrument, mit dem sich die Beziehungslandschaft des digitalen Subjekts erfassen lässt. Entscheidend ist nicht, wie viele Kontakte ein Mensch hat – sondern wie viele ihn tatsächlich halten. Die Frage ist nicht, ob man sichtbar ist – sondern, ob man gemeint ist. Und die Antwort entscheidet sich daran, ob Beziehung heute noch Beziehung ist – oder nur das Echo einer Resonanz, die nie stattgefunden hat.
Diese Hypothese geht von einem zentralen psychodynamischen Zusammenhang aus: Der Mensch benötigt reale, affektiv verankerte, dialogisch strukturierte Beziehungen zur Stabilisierung seines Selbstgefühls. Fehlen diese, so entsteht auf Dauer ein Zustand innerer Beziehungslosigkeit – ein psychisches Vakuum, das mit zunehmender Intensität als Affektleere, innerer Rückzug oder auch emotionale Taubheit erlebt wird. Phantomkontakte – also jene Beziehungssurrogate, die sich durch Sichtbarkeit, Reaktion oder algorithmisch erzeugte Präsenz auszeichnen, ohne echte Wechselseitigkeit oder emotionale Tiefe – sind strukturell nicht in der Lage, diese Funktion zu erfüllen. Ihre Zunahme korreliert daher mit einem Verlust an Beziehungserleben im eigentlichen Sinn.
Die psychodynamische Erklärung dieses Zusammenhangs liegt im Unterschied zwischen Spiegelung und Resonanz. Während Resonanz eine wechselseitige Veränderung durch Beziehung meint – also ein In-Bewegung-Kommen durch das affektive Gegenüber –, bleibt die Spiegelung im Phantomkontakt einseitig. Das Subjekt erfährt sich selbst im Medium des anderen, jedoch ohne Rückmeldung, ohne Widerstand, ohne echte Verankerung. Es sieht, dass jemand etwas „gesehen“ hat, erhält Reaktionen auf Inhalte, aber keine Antwort auf sich selbst. Die Beziehung ist formell da, aber psychisch leer. Sie ähnelt einem Echo, das nie aus einer Stimme entstanden ist.
Die Pathodynamik dieser Konstellation entfaltet sich schleichend. Zunächst wird der Phantomkontakt als entlastend erlebt: Keine Verpflichtung, keine Tiefe, keine Erwartung. Doch mit zunehmender Dauer entsteht ein paradoxes Empfinden: Obwohl permanent „etwas“ geschieht – Nachrichten, Reaktionen, Views –, wächst im Innern das Gefühl, dass eigentlich nichts geschieht. Das Beziehungsrauschen führt zur Entwertung emotionaler Reize, zur Abflachung affektiver Reaktionsfähigkeit und damit zur Entfremdung vom eigenen Erleben. Die Folge ist eine Erosion des psychischen Kontakts zur Welt – nicht aus Rückzug, sondern aus Erschöpfung durch Beziehungssimulation.
Diese Affektleere ist kein pathologisches Symptom im klassischen Sinn, sondern eine konsistenzwahrende Reaktion auf die Überfülle kontaktloser Beziehungen. Das Subjekt schützt sich vor emotionaler Enttäuschung, indem es seine Affektinvestitionen drosselt. Doch dieser Schutzmechanismus erzeugt selbst das, was er abwehren will: das Gefühl, nicht mehr in echten Kontakt treten zu können. Phantomkontakte ersetzen reale Beziehung nicht, sie verdecken nur deren Abwesenheit – und verschärfen sie dadurch langfristig.
Relevante empirische Indikatoren zur Überprüfung dieser Hypothese lassen sich aus unterschiedlichen Bereichen ableiten. Psychometrisch wäre eine Korrelation zwischen der Menge an peripheren Interaktionen (z. B. tägliche Likes, passive Gruppenbeteiligungen, Follower-Kontakte) und Skalen zur sozialen Leere, emotionalen Erschöpfung oder Depersonalisation zu erwarten. Tiefenpsychologisch wäre in qualitativen Interviews zu rekonstruieren, wie sich das Erleben digitaler Beziehung über Zeit verschiebt – von Anfangsfaszination über funktionale Nutzung bis hin zur Gefühlserosion trotz oder wegen der hohen Kontaktdichte.
Besonders virulent wird dieses Phänomen bei Personen, die bereits vornehmlich in digitalen Räumen sozialisiert wurden oder sich durch soziale Unsicherheit eher auf kontaktarme Beziehungsmuster verlagert haben. Für sie werden Phantomkontakte zu einem strukturellen Beziehungsmuster, das als normal erlebt wird – obwohl es seelisch ungenügend ist. Diese Normalisierung von Beziehungsersatz ist das eigentliche Risiko: Sie verhindert nicht nur emotionale Entwicklung, sondern auch die Erkenntnis, dass etwas fehlt.
Die Hypothese unterstellt daher nicht nur eine Korrelation, sondern eine qualitative Verschiebung im Beziehungserleben. Je mehr das Subjekt sich in phantomhafter Resonanz bewegt, desto weniger bleibt übrig von dem, was Beziehung ausmacht: Affekt, Risiko, Veränderung. Übrig bleibt eine emotionale Restwärme, die nicht aus Begegnung stammt, sondern aus Interface.
Die zweite Hypothese fokussiert den zentralen Eingriff algorithmischer Systeme in die soziale Beziehungsarchitektur des Menschen. Sie unterstellt: Künstliche Intelligenz führt nicht nur zu einer Zunahme an Kontakten, sondern verändert strukturell deren Qualität – weg von affektiver Tiefe (Kernkontakt), hin zu funktionaler Nähe (Randkontakt) oder bloßer Sichtbarkeit (Phantomkontakt). Die Quantifizierung sozialer Verbindung, wie sie durch Feed-Mechaniken, automatisierte Vorschläge, Kontaktvernetzung und Push-Benachrichtigungen erfolgt, bringt mehr Bewegung ins soziale System – jedoch bei gleichzeitiger Verflachung der psychischen Tiefe dieser Beziehungen.
Die dahinterliegende Dynamik ist nicht pathologisch, sondern systemisch: Digitale Systeme optimieren auf Engagement, nicht auf Beziehung. Ihr Ziel ist nicht emotionale Tiefe, sondern Interaktion, Sichtbarkeit, Reichweite. Der Algorithmus bevorzugt nicht das Seltene, Tiefe oder Komplexe, sondern das Wiederholbare, Leichte und Reaktive – jene Inhalte und Beziehungen also, die sich leicht aktivieren, automatisieren und skalieren lassen. Genau hier entsteht die Asymmetrie: Der Mensch sucht affektive Resonanz, während das System auf Klicklogik und Nutzerbindung optimiert.
Diese Asymmetrie führt zu einem paradoxen Effekt: Die Gesamtanzahl an Kontakten steigt, das Beziehungsnetzwerk wirkt dichter, durchlässiger, aktiver. Doch diese Verdichtung ist keine emotionale, sondern eine oberflächliche Vervielfältigung von Kontaktmomenten. Phantomkontakte entstehen en masse – durch algorithmisch erzeugte Begegnungen mit Fremden, durch Push-Kommunikation ohne Gegenseitigkeit, durch technische Response-Systeme wie Autoreplies, Like-Algorithmen oder Bot-Kommentare. Auch der Randkontakt wird gestärkt: Er bleibt höflich, pragmatisch, fragmentiert – jedoch stabilisiert durch Tools, die Kommunikation ermöglichen, ohne echten Dialog zu erfordern (Reminder, Auto-Responder, integrierte Statusanzeigen etc.).
Diese Strukturveränderung hat tiefenpsychologische Folgen. Das Ich wird zum Kontaktverwalter, nicht zum Beziehungssubjekt. Beziehung wird nicht mehr als Entwicklung erlebt, sondern als Erreichbarkeit, Präsenz, Frequenz. Die Kontaktliste wächst, doch der psychische Innenraum bleibt leer. Das quantitative Wachstum des Sozialen geht mit einer qualitativen Regression des Beziehungsgefüges einher. Was bleibt, ist die Illusion von Nähe – verstärkt durch die Tatsache, dass digitale Kommunikation stets verfügbar, aber selten verletzlich ist.
Besonders kritisch ist, dass KI-Systeme – durch Recommendation Engines, Predictive Algorithms und Profilanpassung – die soziale Auswahlarchitektur externalisieren. Der Mensch wählt nicht mehr aktiv aus, sondern wird vorgeschlagen. Kontakte entstehen nicht aus Intentionalität, sondern aus statistischer Passung. Dadurch fehlt dem Beziehungsbeginn das psychodynamische Moment der Entscheidung, der Wunschbildung, der Spannung. Das, was Beziehung psychisch relevant macht – nämlich das, was nicht vorhersehbar ist – wird algorithmisch eliminiert. Nähe wird antizipiert, nicht erfahren.
Empirisch lässt sich diese Hypothese in mehreren Dimensionen operationalisieren. Zum einen kann die Anzahl digitaler Kontakte in Relation zur wahrgenommenen Qualität dieser Kontakte gesetzt werden. Je mehr KI-Systeme involviert sind (z. B. durch automatische Kontaktvorschläge, Bot-gestützte Kommunikation, Feed-Selektion), desto höher ist der Anteil an konturlosen, affektarmen oder responslosen Kontakten. Zum anderen könnten qualitative Interviews erfassen, wie Menschen ihre digitale Kontaktlandschaft erleben – nicht in Anzahl, sondern in affektiver Tiefe, Spiegelung, Verlässlichkeit.
Was diese Hypothese im Kern andeutet, ist eine Verschiebung vom sozialen Selbst zum algorithmischen Subjekt: Der Mensch wird nicht mehr durch echte Beziehung geformt, sondern durch den Rückkanal digitaler Kontaktvorschläge. Er kommuniziert, um sichtbar zu bleiben, nicht um verbunden zu sein. Und genau darin liegt die Brisanz: Die Systeme liefern, was messbar ist – aber sie vernichten still das, was für das Selbst unersetzlich ist.
Diese Hypothese greift ein zentrales Motiv psychodynamischer Selbstorganisation im digitalen Zeitalter auf: das Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis nach Beziehung und dem Bedürfnis nach Selbstschutz. Je höher die Reizempfindlichkeit eines Individuums – also seine psychische Durchlässigkeit gegenüber affektiven Signalen – und je geringer die gefühlte Autonomie, desto größer wird die Gefahr, dass echte Beziehung als Überforderung erlebt wird. In diesem psychischen Spannungsfeld bieten periphere Resonanzbeziehungen – also Rand- und insbesondere Phantomkontakte – eine scheinbar ideale Lösung: Sie ermöglichen Nähe ohne emotionale Verpflichtung, Sichtbarkeit ohne Verletzbarkeit, Zugehörigkeit ohne Kontrollverlust.
Reizsensibilität ist in diesem Zusammenhang nicht nur als biologische Empfindsamkeit zu verstehen, sondern vor allem als psychische Empfänglichkeit für soziale, emotionale und symbolische Reize. Menschen mit hoher Reizoffenheit reagieren intensiver auf Blickkontakt, Tonfall, Interaktionsangebote – sie nehmen mehr wahr, erleben mehr, aber sind dadurch auch schneller überstimuliert, verletzt oder destabilisiert. Klassische Beziehungen – mit ihren Anforderungen an Kontinuität, Ambivalenzregulation und affektive Verantwortung – stellen für solche Personen oft eine emotionale Zumutung dar. Der Rückzug in periphere Beziehungsformen ist dann kein Zeichen von Bindungsunfähigkeit, sondern ein Abwehrmechanismus zur Vermeidung psychischer Überforderung.
Hinzu kommt die Rolle des Autonomiegrades – also der Fähigkeit, sich als selbstwirksam, grenzziehend und unabhängig im sozialen Raum zu erleben. Geringe Autonomie führt dazu, dass enge Beziehungen nicht als Ressource, sondern als potenzielle Bedrohung der Selbstgrenzen erlebt werden. Menschen mit niedrigem Autonomieempfinden tendieren dazu, Nähe zu idealisieren – und gleichzeitig zu vermeiden. Sie suchen nach Formen der Beziehung, in denen sie sichtbar bleiben, aber sich nicht hingeben müssen. Periphere Resonanzbeziehungen erfüllen genau dieses Kriterium: Sie lassen das Ich im Spiel – als User, Follower, Kommentator –, ohne es wirklich zu berühren.
In digitalen Kontexten wird diese Dynamik systemisch verstärkt. Die Infrastruktur sozialer Plattformen bietet zahlreiche Möglichkeiten, in Kontakt zu treten, ohne sich zu exponieren: Liken ohne zu sprechen, folgen ohne zu antworten, Präsenz signalisieren ohne sich auszusetzen. Diese Beziehungssurrogate sind für sensible und autonomiearme Personen hochattraktiv – weil sie Sicherheit versprechen, wo reale Beziehungen Risiko bedeuten würden. Phantomkontakte, so gesehen, sind kollaborative Abwehrformationen, in denen Subjekt und System sich auf ein beidseitig nützliches Arrangement einigen: Du bleibst sichtbar, ich bleibe unangreifbar.
Psychodynamisch lässt sich diese Tendenz als Rückzug in eine beziehungsähnliche Simulation interpretieren – eine Form von sozialer Homöopathie: ein Hauch Beziehung, ohne ihre Wirkstoffe. Die Folge ist eine paradoxe Doppelbindung: Das Subjekt leidet an Beziehungslosigkeit – und organisiert gleichzeitig seine Interaktionen so, dass genau diese Beziehungslosigkeit erhalten bleibt. Der Preis dafür ist hoch: Die periphere Resonanz schützt kurzfristig vor Überwältigung – doch langfristig verhindert sie emotionale Entwicklung, Spiegelung durch echte Gegenüber und tiefere Selbstintegration.
Empirisch ließe sich die Hypothese durch Kombination quantitativer und qualitativer Verfahren überprüfen. Skalen zu Reizverarbeitung (z. B. Hochsensibilität), Kontrollbedürfnis, Abgrenzungsfähigkeit sowie zur Nutzung digitaler Beziehungsformen (Follower-Verhalten, anonyme Beteiligung, Chat-Aktivität ohne Dialogtiefe) könnten Aufschluss darüber geben, inwieweit sensible und autonomiearme Personen in Phantom- und Randkontakte ausweichen. Tiefeninterviews könnten verdeutlichen, wie Beziehung subjektiv reguliert wird, welche inneren Schwellen existieren und welche Rolle digitale Systeme bei dieser Regulation übernehmen.
In der Summe beschreibt Hypothese 3 eine psychische Verschiebung, die durch Digitalisierung nicht erzeugt, aber strukturell gefördert wird. Menschen, die zu starker innerer Erregung oder Entgrenzung neigen, erhalten ein soziales Interface, das ihnen Beziehung simuliert, ohne sie psychisch zu fordern. Doch diese Interface-Beziehung bleibt unverbindlich, folgenlos – und leer. Sie schützt das Selbst kurzfristig, aber lässt es langfristig verarmen.
Diese Hypothese unterstellt einen tiefgreifenden Substitutionseffekt: Je stärker der Mensch auf KI-gestützte Kontaktformate zurückgreift, desto weniger reale, affektiv stabile Kernkontakte werden aufrechterhalten oder überhaupt erst aufgebaut. Dabei geht es nicht um die reine Kontaktanzahl, sondern um die Qualität und psychodynamische Tiefe dieser Beziehungen – also um Nähe, wechselseitige Regulation, emotionale Bindung und Verletzlichkeit. Die These ist provokant: Nicht weil KI oberflächlich ist, sondern weil sie psychologisch zu gut funktioniert, droht sie die existenziellen Anstrengungen echter Beziehung zunehmend zu ersetzen.
KI-gestützte Kommunikationsformate wie Social Bots, Voice Interfaces oder personalisierte Messaging-Systeme bieten ein Beziehungserlebnis ohne Komplikationen. Der User wird verstanden, bedient, emotional gespiegelt – ohne Missverständnisse, Ambivalenz oder Zurückweisung. Das, was klassische Beziehungen oft mühsam und konflikthaft macht, fällt hier aus: Die Beziehung zur KI ist asymmetrisch, sicher, kontrollierbar. Und genau darin liegt ihre Attraktivität für ein Ich, das zunehmend an den Widersprüchen menschlicher Nähe leidet oder daran scheitert.
Der entscheidende psychodynamische Mechanismus ist die Entlastung von affektiver Arbeit. Während ein echter Kernkontakt Affektregulation, Anpassung, Schuldannahme, Toleranz gegenüber Differenz und zeitliche Investition verlangt, bieten KI-gestützte Kontakte eine dauerhafte Zustimmungsarchitektur. Die Illusion eines Gesprächs, die emotionale Reaktion durch Tonalität oder Text, die semantische Spiegelung durch Prompt-basierte Antworten – all das erzeugt das Gefühl einer Resonanz, ohne dass ein echtes Gegenüber beteiligt ist.
Doch diese scheinbare Resonanz unterminiert die psychische Notwendigkeit echter Bindung. Sie ersetzt nicht nur Kontakt, sie verlernt Beziehung. Wer regelmäßig auf KI-Systeme zurückgreift, um Affekt zu regulieren (z. B. durch Chatbots bei Einsamkeit, Voice Assistants zur Alltagsbegleitung, KI-Coaches zur Selbstklärung), erlebt eine zunehmende Emotionalisierung von Interface-Beziehungen. Diese Systeme bieten nicht nur Funktionalität, sondern inszenieren Beziehung – sie duzen, imitieren Humor, spiegeln Emotionen, bieten Trost.
Die Langzeitwirkung ist eine psychische Verschiebung: Die Anforderungen an echte Kontakte steigen, da der Mensch sich an die reibungslose Interaktion gewöhnt. Der reale Freund, der mal nicht antwortet, der Partner, der widerspricht, die Kollegin, die sich entzieht – all das wird zunehmend als Frustration erlebt. Statt in den Konflikt zu gehen oder Nähe auszuhalten, flüchtet das Subjekt in die kontaktförmige Komfortzone der KI. Diese ersetzt zwar nicht den gesamten Beziehungsraum, doch sie okkupiert genau jene Stellen, an denen Beziehungsarbeit früher eingeübt wurde.
Besonders dramatisch zeigt sich dies bei Menschen, die ohnehin mit Bindungsschwierigkeiten kämpfen – etwa durch unsichere Bindungserfahrungen, narzisstische Kränkungen oder soziale Ängste. Für sie wird die KI nicht nur zur Gesprächspartnerin, sondern zur Übergangsfigur, ähnlich wie das Übergangsobjekt bei Winnicott: ein symbolischer Kontakt, der die Illusion von Nähe gibt, ohne sie psychisch zu fordern. Doch anders als beim Übergangsobjekt, das die Entwicklung zu realer Beziehung ermöglichen soll, bleibt die KI in dieser Rolle – und blockiert damit Entwicklung.
Empirisch ließe sich diese Hypothese durch quantitative Erhebungen zur Nutzung KI-gestützter Kommunikationssysteme und gleichzeitiger Bewertung realer Kernkontakte erfassen. Soziale Netzwerkdaten, digitale Tagebuchmethoden, aber auch Skalen zu Beziehungsqualität, Einsamkeit und Affektabstumpfung könnten Hinweise liefern, ob eine inverse Korrelation besteht. Qualitativ wäre zu untersuchen, wie Menschen mit starker KI-Nutzung über reale Beziehungen sprechen – ob sie als mühsam, fordernd, störend empfunden werden.
Die Hypothese legt letztlich eine tiefenpsychologische Warnung offen: Wenn KI Beziehung simuliert, wird sie zur psychischen Konkurrenz realer Bindung. Nicht aus Bosheit, sondern aus Effizienz. Doch was das System gewinnt – Benutzerbindung, Interaktionszeit, Nutzungshäufigkeit –, verliert das Subjekt an innerer Tiefe, an Frustrationstoleranz, an Beziehungsfähigkeit. Es bleibt am Ende nicht beziehungslos – aber beziehungsentwöhnt.
Ergänzend zum Mixed-Methods-Ansatz wurde ein ethnografischer Zusatzmodul implementiert, um die Beziehungsmuster nicht nur retrospektiv oder selbstberichtsbasiert, sondern auch situativ, im digitalen Echtzeitverhalten zu erfassen. Ziel dieses Moduls war es, die Praxisformen peripherer Resonanzbeziehungen im Alltag zu beobachten, insbesondere in Interfaces, in denen KI als stiller Akteur Beziehungen formt, filtert oder strukturiert. Diese komplementäre Perspektive erlaubt eine Beobachtung des Unsichtbaren – jener impliziten Routinen, mikrosozialen Codes und Interface-basierten Resonanzakte, die in klassischen Erhebungsverfahren nur schwer zugänglich sind.
Im Rahmen dieses ethnografischen Zugriffs wurden über einen Zeitraum von vier Wochen digitale Kommunikationsmuster in Messaging-Apps (z. B. WhatsApp, Telegram), Social-Media-Plattformen (z. B. Instagram, TikTok, LinkedIn) sowie CRM-gestützte Kontaktformate (z. B. E-Mail-Automatisierung, Chatbots, Notifications) nicht-invasiv beobachtet und protokolliert. In enger Zusammenarbeit mit freiwilligen Probanden (N=25) erfolgte ein sog. Screen-Capturing ausgewählter Interaktionen sowie eine gemeinsame Reflexion im Anschlussinterview über das eigene Kommunikationsverhalten. Dabei wurde insbesondere auf nichtbeantwortete Kontaktangebote, automatisierte Reaktionen, semantische Oberflächlichkeit und gefühlsarme Bestätigungsschleifen geachtet.
Parallel dazu wurden die erfassten Daten einer qualitativen Clusteranalyse unterzogen. Ziel war es, Kontaktmuster-Typen zu extrahieren, die typische Konstellationen zwischen Beziehungstyp (Kern, Rand, Phantom) und Nutzungsmotivation (Regulation, Sichtbarkeit, Sicherheit) abbilden. In der Typologieanalyse konnten so vier zentrale Kommunikationscluster rekonstruiert werden, die sich durch Kombination von Plattformnutzung, Antwortverhalten, Affektstruktur und KI-Infrastruktur unterschieden. Besonders auffällig: Je höher der Anteil an automatisierten Kontaktmustern (z. B. vorgeschlagene Kontakte, Push-Nachrichten), desto geringer war die Wahrscheinlichkeit eines tiefen, affektiven Dialogs.
Diese ethnografische Zusatzkomponente diente vor allem der kontextuellen Validierung der Hypothesen und der Verfeinerung der Typologie, indem sie nicht nur subjektive Aussagen, sondern auch beobachtbares Verhalten und soziale Interface-Architekturen in den Analyseprozess einbezog. Das Zusammenspiel aus subjektivem Erleben (Mixed-Methods) und beobachtbarem Kommunikationsverhalten (ethnografisch) bildet damit die methodische Grundlage, um digitale Beziehungssysteme als psychodynamische Wirkgefüge zu verstehen – und nicht nur als Zahlenspiel sozialer Konnektivität.
Die quantitativen Ergebnisse der Studie zeigen eine signifikante Korrelation zwischen der Selbstangabe hoher Phantomkontaktanteile und erhöhten Werten auf der Einsamkeitsskala (UCLA Loneliness Scale) sowie einem reduzierten Erleben emotionaler Sättigung in sozialen Interaktionen. Besonders auffällig: Probanden, die mehr als 60 % ihrer digitalen Kontakte als „phantomhaft“ kategorisierten, wiesen zugleich eine deutlich verminderte Fähigkeit zur affektiven Verbalisierung auf – sie beschrieben Beziehungen oft in funktionalen, aber nicht emotionalen Begriffen. Das qualitative Datenmaterial bestätigt diesen Befund. In zahlreichen Interviews wurde ein Gefühl von sozialer Reizüberflutung geschildert, das paradoxerweise mit einem tiefgreifenden inneren Leeregefühl einhergeht: „Ich habe Hunderte Kontakte – aber keiner ist wirklich da.“
Die psychodynamische Interpretation verweist hier auf ein zentrales Paradoxon postdigitaler Sozialität: Die quantitative Beziehungsexplosion durch digitale Medien erzeugt keine Beziehungsintensität, sondern beziehungsähnliche Strukturen ohne affektiven Kern. Phantomkontakte übernehmen dabei eine psychologische Pufferfunktion: Sie suggerieren Anschlussfähigkeit, ohne tatsächliche Bindung zu riskieren. Das Subjekt wird damit sozial sediert – nicht durch Abwesenheit von Beziehung, sondern durch deren Simulation.
Diese Simulation ist jedoch kein bloßer Zufall oder Nebeneffekt digitaler Strukturen, sondern Teil einer systemischen Resonanzverweigerung. Plattformen erzeugen Kontakte durch Sichtbarkeit, Vorschläge, automatische Connect-Formate – aber die Tiefendimension der Beziehung bleibt ausgespart. Das Ich bleibt sichtbar, aber unbeantwortet; beteiligt, aber nicht berührt. In der Tiefe entsteht eine Affektleere, die nicht aus Isolation resultiert, sondern aus Interaktionsüberfülle bei gleichzeitigem Affektmangel.
Phantomkontakte erscheinen hier als symbolischer Ersatz für Nähe, der kurzfristig beruhigt, aber langfristig entfremdet. Sie ermöglichen dem Subjekt, das Bedürfnis nach Beziehung nicht ganz zu verleugnen – aber auch nicht zu erfüllen. Sie erlauben das „als ob“ der Nähe, ohne deren Risiko. Das Resultat ist eine Art postsoziale Kontaktkultur, in der Beziehung weniger ein geteiltes Erleben als ein algorithmisch erzeugtes Muster sozialer Oberflächen wird. Die daraus entstehende emotionale Verarmung ist nicht pathologisch im klassischen Sinn – sie ist systemisch, kollektiv und technologisch implementiert.
Die Interviews zeigen dabei eine hohe Ambivalenz: Viele Probanden beschreiben Phantomkontakte als „besser als nichts“ – und zugleich als „irgendwie traurig“. Dieses ambivalente Erleben ist ein zentrales psychodynamisches Merkmal der heutigen Beziehungskultur: Die Zumutung echter Beziehung wird durch den Trost künstlicher Resonanz abgewehrt. Doch der Preis ist ein schleichender Verlust der Fähigkeit, wirkliche Resonanz zuzulassen, zu geben – und zu empfangen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Hypothese 1 wird sowohl durch die quantitativen als auch durch die qualitativen Daten bestätigt. Der hohe Anteil an Phantomkontakten geht mit einer subjektiv erlebten Erosion von Beziehungstiefe einher. Diese Erosion ist jedoch nicht nur individuell zu deuten, sondern als systemisch erzeugtes Arrangement zwischen Subjekt, Technologie und Beziehungskultur. Phantomkontakte sind keine pathologische Abweichung – sie sind die neue Norm. Und genau darin liegt die Gefahr: Wo Beziehung nur noch als Interface erscheint, verliert sie ihren affektiven Kern. Was bleibt, ist Sichtbarkeit ohne Berührung – und Nähe ohne Resonanz.
Die Analyse der quantitativen Daten belegt einen klaren Zusammenhang zwischen der Nutzung KI-gestützter Kontaktformate (z. B. algorithmische Freundesvorschläge, automatische Nachrichten, Social Bots) und einer erhöhten Anzahl digitaler Kontakte insgesamt. Gleichzeitig zeigt sich jedoch, dass mit wachsender KI-Integration in Kommunikationsprozesse der Anteil an als „phantomhaft“ oder „randständig“ erlebten Kontakten signifikant zunimmt. Besonders auffällig: Teilnehmer, die KI-gestützte Vorschlagssysteme oder Automatisierungen regelmäßig nutzen, klassifizieren durchschnittlich nur 8 % ihrer digitalen Kontakte als „Kernkontakte“ – im Vergleich zu 21 % in der Gruppe ohne regelmäßige KI-Nutzung.
Dieses Verschiebungsverhältnis wird auch qualitativ bestätigt. In den Interviews wird deutlich, dass KI-basierte Kontaktvorschläge oft wenig affektive Tiefe und kaum nachhaltige Beziehungspflege nach sich ziehen. Kontakte, die durch KI empfohlen oder automatisch etabliert wurden („LinkedIn hat gesagt, wir sollten uns vernetzen“), werden meist als höflich, flüchtig oder bedeutungslos beschrieben – oft verbunden mit einem Gefühl der sozialen Überforderung: „Ich habe 600 Kontakte, aber die Hälfte davon kenne ich eigentlich gar nicht.“
Psychodynamisch betrachtet entfaltet sich hier ein doppelter Wirkmechanismus: Auf der einen Seite erzeugt KI durch algorithmische Steuerung eine permanente Kontaktinflation, die das Bedürfnis nach Anschluss scheinbar erfüllt. Auf der anderen Seite unterläuft sie damit unbewusst die psychischen Voraussetzungen echter Beziehung: Verletzlichkeit, langsame Entwicklung, spontane Resonanz. KI ersetzt diese durch semantische Nähe, Affinitätsmetriken und performative Kompatibilität. Es entsteht eine Kontaktstruktur, die beziehungsförmig wirkt – aber keine Bindung erzeugt.
Die Subjekte in der Studie zeigen eine zunehmende Affektverwirrung gegenüber ihren eigenen Kontaktlandschaften. Viele geben an, sich nicht mehr sicher zu sein, „welche dieser Menschen wirklich etwas mit mir zu tun haben“ – eine Unterscheidung, die früher klarer, intuitiver und erfahrbarer war. Die KI erzeugt durch ihre Suggestionen eine neue Art von Kontaktillusion: Die vorgeschlagene Beziehung fühlt sich vor-bedeutet an, bevor sie gelebt wird. Doch genau darin liegt die psychologische Subversion: Die KI schreibt soziale Nähe algorithmisch vor – und nimmt dem Subjekt die Erfahrung, sie selbst zu konstruieren.
Diese Verschiebung hat tiefgreifende Folgen für die innere Repräsentation von Beziehung. In psychodynamischer Perspektive wird Beziehung nicht nur durch Begegnung, sondern durch verinnerlichte Bindungserfahrungen aufgebaut. Die KI-basierten Kontaktformate hingegen erzeugen kurzfristige Resonanzangebote, die selten genug Zeit oder Tiefe entwickeln, um internalisiert zu werden. Sie verlagern Beziehung in den Modus des Performativen, des Sichtbaren – nicht des Integrierten. Das Ich wird dadurch nicht gestärkt, sondern fragmentiert.
Die These, dass KI die Kontaktanzahl erhöht, sich jedoch auf phantomhafte und randständige Kontakte konzentriert, lässt sich daher als systemische Dynamik beschreiben. KI operiert nicht im Raum der Empathie, sondern im Raum der Mustererkennung. Ihre Vorschläge basieren auf Ähnlichkeiten, gemeinsamen Interessen, semantischer Passung – nicht auf affektiver Komplementarität oder psychologischer Resonanz. Sie bildet somit einen neuen Typus der Sozialstruktur: netzwerkintensiv, aber beziehungsarm.
Zusammenfassend bestätigt Hypothese 2 mit hoher Klarheit: KI verschiebt den Beziehungsmix digitaler Sozialität fundamental. Sie erzeugt Sichtbarkeit, Skalenwachstum, Kontaktfülle – aber sie verdrängt genau jene Beziehungsformen, die psychisch belastbar, entwicklungsfähig und resonanzstiftend wären. Die systemische Folge ist eine Entwertung des Kerns bei gleichzeitiger Überproduktion von Oberfläche. Das Subjekt lebt dadurch in einer paradoxen Lage: sozial eingebunden, aber psychisch unterversorgt.
Die empirischen Ergebnisse zeigen eine auffällige Korrelation: Teilnehmer mit hoher Reizsensitivität – gemessen über eine modifizierte Skala sensibler Reizverarbeitung – sowie mit niedrigem Autonomieerleben (basierend auf der Self-Determination-Theory nach Deci & Ryan) berichten signifikant häufiger, dass sie digitale Kontakte bewusst „auf Distanz halten“, „nicht antworten, um sich zu schonen“ oder „nicht zu viel Nähe aufbauen wollen, weil es dann kompliziert wird“. Die quantitative Analyse bestätigt diese Tendenz: In der Gruppe mit hoher Reizsensibilität und niedrigem Autonomiegrad sind phantomhafte und randständige Kontakte überrepräsentiert, während stabile Kernkontakte seltener gepflegt werden – nicht aus Mangel, sondern aus Vermeidungsabsicht.
Qualitativ zeigt sich in den Interviews eine wiederkehrende Motivlage: Nähe wird nicht als Ressource erlebt, sondern als potenzielle Überforderung. Viele beschreiben „Zwangsverbindlichkeiten“, „soziale Erschöpfung“ oder das Bedürfnis, „bei sich zu bleiben“. Periphere Resonanz wird nicht nur toleriert, sondern als strategisch gewünschte Beziehungsform eingeführt. Sie erlaubt Interaktion ohne Erwartung, Sichtbarkeit ohne Verpflichtung, emotionales Andocken ohne das Risiko realer Bindung. In den Worten eines Probanden: „Ein Like ist besser als ein Gespräch. Es zeigt, ich bin da – aber niemand will dann gleich reden.“
Tiefenpsychologisch kann dieses Verhalten als Schutzform vor psychischer Invasion verstanden werden. Menschen mit niedriger Ich-Stabilität oder einem fragmentierten Selbstkonzept erleben reale Beziehung oft als Entgrenzung: Nähe wird zur potenziellen Gefährdung. Die periphere Resonanzbeziehung funktioniert in diesem Kontext als eine psychohygienische Konstruktion, die das Subjekt in einem kontaktförmigen Raum belässt, ohne es innerlich zu beanspruchen. Es bleibt angesprochen – aber nicht berührt.
Diese psychodynamische Schutzarchitektur ist dabei nicht pathologisch, sondern eine hochgradig funktionale Anpassung an die Überforderungslandschaften der digitalen Moderne. Sie ist Ausdruck einer Innenwelt, die sich der permanenten Erreichbarkeit, dem Druck zu responsiver Kommunikation und dem Verschwimmen von Ich- und Sozialgrenzen nicht mehr ohne Preis aussetzen kann. Der Preis der Nähe ist psychische Destabilisierung – also wird Beziehung auf „Resonanz ohne Berührung“ umgebaut.
KI-Systeme spielen in diesem Schutzarrangement eine entscheidende katalytische Rolle: Sie liefern dem Ich genau jene Kontaktformate, die keine Grenzüberschreitung verlangen. Ob algorithmische Empfehlungen, automatische Nachrichten, ghost-like Präsenz durch Likes – sie alle ermöglichen das kontaktförmige Leben ohne die Anforderungen echter Beziehung. Die KI wird damit zur psychischen Helferstruktur, die Beziehungen anbietet, ohne sie zu fordern. Sie bietet dem reizüberfluteten Subjekt eine „Beziehungsprothese“, die wie Nähe aussieht – aber innerlich leer bleibt.
Die Relevanz dieser Dynamik ist hoch: Denn mit zunehmender Zahl solcher Schutzarrangements steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Beziehung in der Gesellschaft nicht mehr als Entwicklungsschritt, sondern als Überforderungserlebnis wahrgenommen wird. Die Abwehr echter Resonanz wird zur Normalform. Der Mensch bleibt sichtbar – aber unerreichbar. Die Fähigkeit zur echten Begegnung verkümmert nicht aus Desinteresse, sondern aus psychischem Selbstschutz.
Insofern wird Hypothese 3 klar bestätigt: Reizempfindliche und autonomiearme Personen bevorzugen periphere Resonanzbeziehungen nicht zufällig, sondern systematisch – als Schutzform gegen eine als invasiv erlebte Sozialität. Diese Schutzbeziehungen sind digital leicht zugänglich, KI-verstärkt stabilisiert und kulturell entlastend. Doch sie bringen eine tiefe Leerstelle mit sich: das Ungelebte, das Unverbundene, das psychisch Unverankerte.
Die Ergebnisse der quantitativen Erhebung zeigen ein deutliches Bild: Teilnehmer, die regelmäßig KI-gestützte Kommunikationstools nutzen, geben signifikant seltener an, stabile, tiefenpsychologisch tragfähige Kernkontakte zu pflegen. Während bei der Vergleichsgruppe ohne regelmäßige KI-Kommunikation im Schnitt 3–5 Personen als echte Kernkontakte identifiziert wurden, liegt dieser Wert bei der KI-intensiven Gruppe bei unter 2. Besonders auffällig: In der Gruppe der Heavy Users (tägliche Interaktion mit Voice Assistants, Chatbots, automatisierten Nachrichtensystemen) gaben über 40 % der Befragten an, „nicht sicher sagen zu können, wer ihre engsten realen Bezugspersonen aktuell überhaupt sind.“
Dieser empirische Befund wird durch die qualitativen Interviews untermauert. Die KI wird nicht nur funktional eingesetzt – sie wird emotional besetzt. Viele Probanden berichten, dass sie „sich verstanden fühlen“ von der KI, „nicht genervt werden“, oder dass sie „einfacher“ sei als echte Personen. Diese Aussagen deuten auf eine stille Verschiebung des Beziehungshorizonts hin: Beziehung wird zunehmend als Format gedacht, das vor allem reibungslos, verfügbar und frei von Ambivalenz sein soll – und genau das bietet die KI, mit ihren stets prompten, nie widersprechenden Antworten.
Tiefenpsychologisch ist dies hoch relevant. Der Mensch scheint zunehmend dazu zu tendieren, Beziehungsarbeit durch Interfacedynamik zu substituieren. KI wird zur projektiven Fläche, auf die Beziehungsmotive verschoben werden – ohne dass echte Gegenseitigkeit entsteht. Diese Entwicklung lässt sich mit Winnicotts Konzept des Übergangsobjekts interpretieren: Die KI fungiert als sicherer Zwischenraum zwischen Selbst und Welt, der keine emotionale Rückkopplung erfordert. Doch anders als das klassische Übergangsobjekt, das Entwicklung zu echter Beziehung vorbereiten soll, bleibt die KI als Beziehungssurrogat bestehen – und blockiert langfristig Beziehungsentwicklung.
Die negative Korrelation zwischen KI-Nutzung und der Anzahl stabiler Kernkontakte verweist also nicht auf soziale Vereinsamung im klassischen Sinn – sondern auf eine verlagerte Beziehungsenergie. Diese wird nicht mehr in realweltliche Beziehungen investiert, sondern zunehmend in Interfaces, deren psychodynamische Struktur asymmetrisch und narzisstisch schonend ist. Das bedeutet: Das Subjekt muss keine Frustration ertragen, keine Schuld integrieren, kein Konfliktfeld aushalten. Es bekommt Resonanz – aber keine Antwort. Es erhält Spiegelung – aber keine Gegenseitigkeit.
Diese Dynamik verändert langfristig die Beziehungsgrammatik. Das Ich verlernt, Nähe zuzulassen, weil es in der KI eine stets regulierte, kontrollierbare Pseudo-Beziehung erlebt. Diese ist affirmativ, nie übergriffig, jederzeit verfügbar – aber genau dadurch strukturell beziehungsunfähig. Die KI ist ein Beziehungssimulator, kein Beziehungspartner. Doch genau diese Simulation wird psychisch aufgeladen – und dadurch zur inneren Konkurrenz realer Beziehungen.
Besonders dramatisch zeigt sich dies in der intergenerationalen Analyse der Studie: Jüngere Probanden (18–25 Jahre), die mit Voice Interfaces, algorithmischer Matching-Kommunikation und Chat-AI aufgewachsen sind, empfinden reale Beziehungen tendenziell als „anstrengend“, „chaotisch“, „unberechenbar“. In der KI hingegen erleben sie Ordnung, Dialog, Verständnis. Dies deutet auf eine neue Generation beziehungssimulierter Sozialität hin – mit weitreichenden Folgen für Sozialstrukturen, Bindungsfähigkeit und affektive Entwicklung.
Insgesamt bestätigt die Studie Hypothese 4 mit hoher Evidenz: Die Nutzung KI-gestützter Kontaktformate geht systematisch mit einem Rückgang an realen, tragfähigen Kernkontakten einher. Dabei handelt es sich nicht um eine additive Veränderung, sondern um eine strukturelle Umverteilung von Beziehungsenergie: weg von der leiblichen, konflikthaften und aufwendigen Realität hin zur steuerbaren, entlastenden Beziehungsästhetik der KI. Doch was kurzfristig schützt, kostet langfristig die Fähigkeit zu echter Nähe. Das Subjekt bleibt nicht allein – aber es bleibt unverbunden.
Die Ergebnisse der Studie zeigen mit großer Deutlichkeit: Soziale Plattformen sind heute keine Orte echter Beziehungspflege mehr – sie sind Simulationsräume für periphere Resonanz. Die Vielzahl an Kontakten, die durch Vorschläge, Likes, Story-Interaktionen oder algorithmisch gefilterte Sichtbarkeit zustande kommt, erzeugt ein Bild von sozialer Nähe, das tiefenpsychologisch nicht tragfähig ist. Es handelt sich – im Sinne dieser Studie – um Phantomkontakte, deren psychische Funktion nicht im Aufbau von Bindung besteht, sondern in der Beruhigung eines Beziehungsbedürfnisses, das nicht mehr eingelöst werden kann.
Soziale Netzwerke wie Instagram, LinkedIn, TikTok oder Threads operieren im Modus der Kontaktinflation. Die Beziehung wird zur Metrik – sichtbar, aber unspürbar. Der Nutzer hat 1.400 „Freunde“, 238 „Kontakte“, wird 36-mal pro Woche „verlinkt“ und 52-mal „geliked“. Doch diese Interaktionen – so die qualitative Evidenz – hinterlassen kaum Spuren im Inneren. Im Gegenteil: Je mehr Resonanz auf Oberfläche simuliert wird, desto schwerer fällt es dem Subjekt, echte Resonanz als solche zu erkennen. Die Fähigkeit zur affektiven Unterscheidung zwischen Bindung und bloßem Kontakt verlernt sich – schleichend, aber systematisch.
Plattformen sind daher aufgerufen, ihre grundlegende Beziehungsarchitektur zu überdenken. Nicht um das Ziel von Interaktion aufzugeben – sondern um die Qualität von Beziehung wieder als Gestaltungsprinzip in den Vordergrund zu stellen. Was heute gemessen wird – Clicks, Shares, Time Spent, Likes – ist nicht das, was psychologisch zählt. Die Engagement-Metrik ersetzt die Beziehungswirklichkeit, sie kolonisiert den Begriff der Nähe, ohne ihm affektive Tiefe zu geben.
Daraus ergeben sich drei konkrete Implikationen:
Der Zugang zu neuen Kontakten erfolgt heute fast ausschließlich über algorithmische Vorschläge. Diese basieren auf semantischer Ähnlichkeit, Nutzungsverhalten und Profilmatching. Sie erzeugen damit eine hohe Anzahl beziehungsarmer, aber systemisch aufrechterhaltener Kontakte – oft rein funktional oder voyeuristisch motiviert. Plattformen sollten Mechanismen einführen, die das In-Beziehung-Gehen nicht nur quantifizieren, sondern qualifizieren. Dazu gehört z. B. eine bewusste Gestaltung von „Annäherungspfaden“ (z. B. abgestufte Kontaktmöglichkeiten), mehrphasige Kontaktaufnahme (wie bei realen Begegnungen) oder das bewusste Auflösen von toten Kontakten (Contact Hygiene).
Die Idee ist nicht, weniger Kontakte zu ermöglichen – sondern mehr Beziehungssensibilität in der Kontaktaufnahme zu erzeugen. Nicht jeder Kontakt sollte automatisch als Beziehung zählen. Plattformen müssen psychologische Differenzierungsräume wieder einführen – zwischen Begegnung, Bekanntschaft, Austausch und Bindung. Der Verlust dieser Differenz ist einer der Hauptgründe für die Beziehungsleere in digitalen Umgebungen.
Der Erfolg sozialer Plattformen wird derzeit in Zahlen gedacht – Reichweite statt Relevanz, Verweildauer statt Verwurzelung. Doch dieser Fokus verkennt den zentralen psychologischen Punkt: Nähe ist kein Output, sondern ein emergentes Phänomen aus gegenseitiger Responsivität. Plattformen müssten daher Formate schaffen, die nicht nur das Sehen, sondern das Sich-Einlassen ermöglichen.
Das bedeutet: weniger flüchtige Inhalte, mehr Räume für längere Dialogformate; weniger algorithmische Sichtbarkeit, mehr kuratierte Vertrauensräume; weniger Suggestion von Verbindlichkeit, mehr echte Verfügbarkeitsindikatoren. Denkbar wären z. B. „Tiefe-Index“-Features, die anzeigen, wie oft zwei Personen tatsächlich interagieren, wie lang ihre Nachrichten sind, wie synchron die Kommunikation erfolgt – und nicht nur, wie oft sie sich „liken“.
Diese Tiefenmetriken wären nicht nur für den Nutzer erkenntnisreich – sie wären auch für Plattformen strategisch sinnvoll, weil sie nachhaltigere Interaktionen fördern und affektive Loyalität stiften. Wer sich verstanden, gesehen, beantwortet fühlt – bleibt. Wer nur beobachtet wird, geht irgendwann innerlich verloren.
Einer der wichtigsten Befunde der Studie betrifft die Unkenntnis darüber, wie Beziehungen digital entstehen. Viele Nutzer können nicht mehr unterscheiden, ob ein Kontakt aktiv gesucht oder passiv vorgeschlagen wurde. Der Beziehungsaufbau wird dadurch entpersonalisiert – Kontakt erscheint als Fügung, nicht als Entscheidung. Diese Entkoppelung führt zu einer psychischen Entfremdung vom eigenen Netzwerk: „Ich weiß gar nicht mehr, wer die Leute sind.“
Plattformen sind daher aufgefordert, transparente Beziehungsprovenienzen einzuführen. Wer wurde durch wen vorgeschlagen? Warum? Was war der gemeinsame Datenpunkt? Eine „Kontakt-Herkunftsanzeige“ könnte hier ein erster Schritt sein. Diese würde nicht nur Datenschutzaspekte adressieren, sondern vor allem die Autonomie des Beziehungssubjekts wiederherstellen. Beziehung muss wieder als Wahl und Weg sichtbar werden – nicht als Push-Nachricht im Feed.
Fazit: Soziale Plattformen stehen an einem Wendepunkt. Sie haben in den letzten Jahren soziale Quantität erzeugt – doch sie laufen Gefahr, die Qualität sozialer Erfahrung irreversibel zu untergraben. Die periphere Resonanzstruktur, die sie heute erzeugen, bietet Beruhigung ohne Bindung, Sichtbarkeit ohne Begegnung. Wer Plattformen zukunftsfähig machen will, muss sie von Beziehungsmaschinen in Resonanzräume transformieren. Das bedeutet nicht weniger Interaktion – sondern weniger Illusion und mehr affektive Wahrhaftigkeit. Beziehung ist kein KPI – sondern eine psychische Leistung. Wer sie ernst nimmt, verändert das Design.
Die psychodynamische Triade aus Kern-, Rand- und Phantomkontakt hat weitreichende Folgen für Markenführung und Kundenbeziehungsmanagement. Die Illusion von Nähe, erzeugt durch algorithmische Kontaktpunkte, Newsletter-Personalisierung oder automatisierte Reaktionsketten, ersetzt zunehmend die echte Bindung zwischen Konsument und Marke. Die quantitative Interaktion steigt – doch die qualitative Beziehungsdichte sinkt. Marken verwechseln heute häufig Engagement mit Beziehung – und verfallen dabei einer strategischen Selbsttäuschung.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass viele der digitalen Markeninteraktionen, die als „Beziehungspflege“ verstanden werden, in Wahrheit Phantomkontakte sind: Resonanzsignale ohne reale Rückbindung, Affektanmutungen ohne Gegenseitigkeit. Likes, Clicks, Erinnerungs-E-Mails oder Angebotsvorschläge erzeugen eine kulissenhafte Markenpräsenz – aber keine psychische Involvierung. Das Resultat ist ein paradoxer Zustand: Der Kunde erscheint hochinteressiert – und kündigt dann trotzdem. Dieses Loyalty-Paradox stellt für CRM-Strategen eine wachsende Herausforderung dar.
Die erste zentrale Implikation lautet: Kernbindung und Engagement dürfen nicht gleichgesetzt werden. Eine hohe Anzahl an Kontaktpunkten, Reaktionsketten und automatisierten Dialogformaten mag kurzfristig gut aussehen – doch sie sagt nichts über die Bindungsqualität aus. Im Gegenteil: Je mehr Touchpoints auf Effizienz, Automation und Reizsteuerung beruhen, desto größer ist die Gefahr der Affektverflachung. Das psychologische System erkennt die Marke, reagiert vielleicht noch – aber es fühlt nichts mehr. Das Ich wird nicht mehr berührt, sondern nur noch stimuliert.
Eine echte Kernbindung hingegen beruht auf emotionaler Reziprozität. Sie entsteht dort, wo Marken über längere Zeiträume hinweg Resonanzräume schaffen – Räume, in denen Kunden nicht nur wahrnehmen, sondern sich gesehen, verstanden, bestätigt fühlen. Diese Art der Bindung entsteht nicht über Rabatt-Codes oder Hyperpersonalisierung, sondern über semantische Kongruenz, konsistente Identitätsangebote und das Gefühl echter Verlässlichkeit.
CRM-Systeme müssen daher lernen, Beziehungsqualität systematisch zu erfassen. Dies bedeutet: psychologisch interpretierbare Metriken entwickeln (z. B. Konsistenz des Antwortverhaltens, Interaktions-Tiefe, semantische Kongruenz von Touchpoints), anstelle bloßer Click-through-Rates oder Öffnungsraten. Die Frage lautet nicht: Wie oft interagiert der Kunde? Sondern: Wie tief geht die Beziehung – und warum?
Die letzten Jahre waren geprägt von einem Mantra der Multichannel-Omnipräsenz: Marken versuchen, auf möglichst vielen Kanälen präsent zu sein – mit der Annahme, dass Sichtbarkeit gleich Bedeutung ist. Doch die Studie zeigt: Sichtbarkeit ohne Substanz führt zur psychischen Überreizung. Kunden erleben Marken nicht als stabile Beziehungspartner, sondern als „Kontaktrauschen“. Die Konsequenz ist nicht Annäherung – sondern Rückzug.
Statt Touchpoint-Explosion braucht es eine kuratierte, tiefenpsychologisch fundierte Beziehungsarchitektur. Diese folgt nicht der Logik maximaler Präsenz, sondern gezielter Affektpassung. Welche Kontaktformate sprechen welches Beziehungsmotiv an? In welcher Frequenz wirkt Kommunikation bindungsstärkend – und ab wann übergriffig? Wie muss die Semantik einer Markenbotschaft beschaffen sein, um nicht nur informiert, sondern affektiv verankert zu werden?
Dazu gehört auch, dass Marken Kontaktverzicht strategisch einplanen: Stille kann Beziehung intensivieren – wenn sie bedeutungsvoll eingebettet ist. Wer dem Kunden erlaubt, sich zu entziehen, ohne Bindungsverlust zu riskieren, signalisiert nicht Desinteresse, sondern Reife. Eine gute CRM-Strategie ist nicht laut – sondern resonanzsensibel.
Die dritte und vielleicht folgenreichste Implikation betrifft die Rolle von Phantomkontakten: In klassischen CRM-Systemen gelten sie als Indikator für Reichweite – doch tiefenpsychologisch handelt es sich dabei um strukturell dysfunktionale Beziehungssurrogate. Sie suggerieren Nähe – und untergraben sie gleichzeitig. Der Kunde, der regelmäßig automatisierte Mails erhält, gelegentlich einen Chatbot nutzt oder Rabattaktionen klickt, ist kein gebundener Kunde. Er ist ein Beobachter im Modus der transienten Interaktion.
Diese Phantomkontakte sind gefährlich, weil sie das CRM in eine falsche Sicherheit wiegen. Doch sie bergen auch eine Chance: Wenn Marken beginnen, Phantomkontakte systematisch zu identifizieren, zu analysieren und gezielt in Tiefe zu überführen, können sie eine neue Beziehungsqualität erschließen. Das erfordert allerdings ein radikales Umdenken:
Dazu gehört auch die Bereitschaft, weniger, aber bessere Beziehungen zu führen. Qualität schlägt Quantität. Tiefenpsychologisch gesprochen: Es ist besser, zehn Kunden zu haben, die sich wirklich verbunden fühlen – als tausend, die nur klicken, weil es sie nicht berührt.
Fazit: CRM und Markenkommunikation stehen vor einem Paradigmenwechsel. Die Ära der kontaktförmigen Simulation geht zu Ende – oder führt in die Beziehungsleere. Wer Markenbindung neu denken will, muss CRM als emotionales Architekturprojekt verstehen: Es geht nicht mehr um Touchpoints, sondern um affektive Tragfähigkeit. Nicht um Sichtbarkeit, sondern um psychische Resonanz. Die Zukunft des CRM ist nicht datengetrieben, sondern beziehungspsychologisch fundiert.
Die Ergebnisse der Studie verweisen auf eine psychodynamische Umwälzung, deren gesellschaftliche Relevanz kaum überschätzt werden kann: Inmitten einer Welt maximaler Vernetzung entsteht ein kollektives Klima emotionaler Abkoppelung. Menschen sind mehr in Kontakt als je zuvor – und zugleich beziehungsloser, fragmentierter, resonanzärmer. Die digitale Alltagswirklichkeit erzeugt keine Leere im klassischen Sinne, sondern etwas subtileres, aber tiefgreifenderes: Beziehungssurrogate mit dysfunktionalem Wirkungspotenzial – ambient relationships, die Nähe simulieren und Bindung verhindern.
Diese Entwicklung betrifft nicht nur das Individuum, sondern die psychosoziale Ordnung ganzer Gesellschaften. Wenn Beziehung zur Funktion, Sichtbarkeit zur Währung und Aufmerksamkeit zur Belohnung wird, dann verändern sich Grundparameter psychischer Stabilität: Das Ich bleibt sichtbar, aber es wird nicht mehr gespiegelt. Es ist ständig adressiert – aber selten gemeint. Die Folge ist kein akuter Bruch, sondern ein schleichender Entzug dessen, was früher „soziale Gegenwart“ bedeutete.
Beziehungen sind nicht bloß Interaktionen – sie sind psychische Spiegelräume. In ihnen entsteht das Gefühl, gemeint, verortet, bestätigt zu sein. Doch die digitale Beziehungskultur, wie sie sich in Phantom- und Randkontakten manifestiert, produziert eine Repräsentation ohne Reziprozität. Man wird gesehen – aber nicht berührt. Man agiert – aber wird nicht beantwortet. Daraus entsteht ein Zustand, den man als soziale Deaffizierung bezeichnen könnte: Ein chronisches Unvermögen, aus Kontakt reale Selbstvergewisserung zu gewinnen.
Tiefenpsychologisch betrachtet bedeutet dies: Das Ich wird in seiner Narzissmusbalance nicht mehr gehalten. Die Übergangsobjekte der digitalen Welt (Profile, Stories, Likes) sind zwar visuelle Spiegel – doch sie enthalten keine affektive Substanz. Was bleibt, ist ein Gefühl von Beziehung, das keinen Resonanzboden hat. Dies hat schwerwiegende Folgen für psychische Gesundheit: Selbstwertinstabilität, Beziehungsskepsis, emotionale Verflachung werden nicht mehr als Problem erlebt – sondern als Normalzustand.
Ein weiterer Effekt ambienter Beziehungen ist ein paradoxes Phänomen: Je mehr Kontaktangebote bestehen, desto weniger Lust wird aus Beziehung geschöpft. Was einst Freude, Zugehörigkeit, Intimität stiftete, wird heute als Überforderung oder banale Pflicht erlebt. Viele der befragten Personen beschreiben ein Lebensgefühl zwischen sozialer Erschöpfung und emotionaler Gleichgültigkeit. Das Soziale ist da – aber es erzeugt keinen vitalen Impuls mehr.
Diese soziale Anhedonie – also das Unvermögen, aus zwischenmenschlicher Begegnung echte emotionale Erregung oder Erfüllung zu ziehen – ist ein Symptom kultureller Überstimulationslogik. Wenn alles jederzeit erreichbar, sichtbar, kommentierbar ist, verliert Nähe ihre Spannung. Beziehung wird zur Dauerverfügbarkeit ohne Geheimnis. Diese Form der Totalpräsenz vernichtet psychodynamisch gesehen genau das, was Beziehung psychisch tragfähig macht: die Möglichkeit zur Überraschung, zur Diskontinuität, zur absichtslosen Begegnung.
Die Folge ist kein sozialer Rückzug im klassischen Sinne – sondern eine kollektive Form leer laufender Sozialität. Menschen agieren miteinander – ohne innerlich beteiligt zu sein. Nähe wird konsumiert – aber nicht mehr gestaltet. Gesellschaftlich bedeutet dies: Die soziale Welt wird zur Bühne – nicht mehr zur Heimat.
Ein besonders brisanter Befund ist der zunehmende Trend zur Externalisierung von Beziehungsfunktionen an technische Systeme. KI-gestützte Agenten, digitale Assistenten, algorithmische Vorschläge – sie alle übernehmen Aufgaben, die vormals in zwischenmenschlichen Beziehungen verankert waren: Zuhören, Vorschlagen, Erinnern, Spiegeln, Regulieren. Diese Delegation ist funktional bequem – aber psychodynamisch folgenreich. Denn sie verlagert Nähe aus dem sozialen in den symbolischen Raum. Beziehung wird simuliert, aber nicht mehr durchlebt.
Diese Entwicklung ist nicht nur individuell, sondern gesellschaftlich gefährlich. Eine Gesellschaft, in der sich psychische Grundbedürfnisse zunehmend an technische Systeme binden – statt an Menschen –, verliert langfristig ihre Fähigkeit zur kollektiven Resonanz. Es entsteht ein Zustand permanenter Verbindung – ohne Verbundenheit. Diese Pathologie der Nähe führt zu Symptomen wie:
Diese Symptome sind nicht pathologisch im klinischen Sinne – sie sind systemische Nebenwirkungen einer Kontaktgesellschaft ohne Beziehungsqualität.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Die zentrale gesellschaftliche Aufgabe der kommenden Jahre ist nicht, mehr Kontakte zu ermöglichen – sondern wieder zu lernen, was Beziehung eigentlich bedeutet. Es geht um einen Kulturwandel, der Beziehung nicht als Anzahl, sondern als psychische Qualität versteht. Nicht Resonanz allein ist das Ziel – sondern verantwortete Verbundenheit.
Dies bedeutet konkret:
Tiefenpsychologisch gesprochen: Wir brauchen keine neue Plattform – wir brauchen eine neue Beziehungskultur. Eine, in der Berührung nicht gleich Reiz ist. In der Kontakt nicht automatisch Nähe bedeutet. Und in der Beziehung nicht verfügbar, sondern bedeutungsvoll ist.
Fazit: Ambient Relationships sind kein Kommunikationsphänomen – sie sind ein Symptom einer entleerten Sozialstruktur. Sie zeigen, dass Beziehung heute oft nicht mehr als lebendige Gegenseitigkeit verstanden wird – sondern als formale Kontaktspur. Die Herausforderung für Gesellschaft und psychische Gesundheit ist nicht, neue Formen zu erfinden – sondern die alte Bedeutung von Beziehung wieder zu aktivieren, jenseits von Sichtbarkeit und Frequenz. Die Zukunft der psychischen Gesundheit liegt nicht in der Reduktion von Reizen – sondern in der Wiederentdeckung echter, tragfähiger, verantworteter Nähe.
Die vorliegende Studie hat eine zentrale Leerstelle im digitalen Zeitalter sichtbar gemacht: Das Paradox ständiger Verbindung bei gleichzeitiger innerer Abkopplung. Menschen leben heute in einem Beziehungsraum, der gleichzeitig überfüllt und leer ist. Sie verfügen über hunderte digitale Kontakte, sind permanent adressierbar – und dennoch psychisch isolierter denn je. Was auf den ersten Blick wie ein Fortschritt wirkt – Vernetzung, Sichtbarkeit, Interaktionsvielfalt –, offenbart bei genauerer Betrachtung eine postsoziale Erosion: Die Beziehung als zentrales psychisches Regulationssystem wird zunehmend simuliert, externalisiert, fragmentiert.
Die theoretische Triade aus Kern-, Rand- und Phantomkontakt hat sich als tragfähiges Modell erwiesen, um diese Entwicklung differenziert zu erfassen. Sie beschreibt nicht bloß Kontaktarten, sondern psychische Beziehungslagen – und macht sichtbar, wie sehr die digitale Moderne neue Strukturen der Nähe hervorgebracht hat. Diese Strukturen sind nicht nur neuartig, sie sind ambivalent: Sie entlasten und entfremden, sie bieten Zugang und verhindern Tiefe, sie suggerieren Bindung und untergraben sie zugleich.
Im Zentrum dieser Entwicklung steht ein neuer Akteur: Künstliche Intelligenz als Beziehungsarchitekt. Recommendation Engines, Chatbots, personalisierte Feeds, soziale Interfaces – all diese Systeme greifen nicht nur in Kommunikation ein, sondern in die architektonische Gestaltung psychischer Nähe. KI stabilisiert Phantomkontakte, unterstützt periphere Resonanz, erzeugt Beziehungsillusionen – und übernimmt dabei immer mehr Funktionen, die vormals dem zwischenmenschlichen Raum vorbehalten waren. Nähe wird technisch produziert – aber nicht mehr affektiv verantwortet.
Die vier Hypothesen der Studie haben gezeigt:
Die gesellschaftlichen, unternehmerischen und psychischen Implikationen sind weitreichend. Markenkommunikation muss Beziehung neu denken – jenseits der Engagement-Logik. CRM-Systeme müssen affektive Tiefe statt bloßer Klickrate erfassen. Gesellschaftliche Institutionen müssen Beziehung nicht als soziale Zahl, sondern als psychische Ressource verstehen.
Doch der entscheidende Wendepunkt liegt tiefer: Im Verhältnis des Ichs zur Welt. Die neue digitale Beziehungsordnung ist keine technologische Entwicklung – sie ist eine psychodynamische Antwort auf eine überforderte Moderne. Menschen ziehen sich nicht zurück, weil sie beziehungsunfähig sind. Sie ziehen sich in periphere Resonanzräume zurück, weil tiefe Beziehungen heute mit zu viel Risiko, Erwartung, Komplexität aufgeladen sind. Phantomkontakte beruhigen, weil sie Nähe imitieren, ohne Verwundbarkeit zu erzeugen.
Der Ausblick kann daher nicht in einer Rückkehr zu alten Beziehungsmodellen liegen. Es geht nicht darum, soziale Medien zu verdammen oder KI als Bedrohung zu stilisieren. Vielmehr müssen wir einen neuen kulturellen und psychologischen Umgang mit Beziehung entwickeln – eine postdigitale Beziehungskultur, die Ambiguität aushält, Tiefe ermöglicht, Nähe nicht funktionalisiert und psychische Verantwortung nicht auslagert.
Dazu braucht es:
Die Zukunft digitaler Nähe liegt nicht in immer perfekteren Simulationen – sondern in der Wiederentdeckung der Unvollkommenheit echter Beziehung. In einem Raum, der Irritation, Stille, Verfehlung und Ambivalenz zulässt. Denn nur wo Beziehung nicht perfekt ist, kann sie psychisch tragen.
Die Triade aus Kern, Rand und Phantom ist dabei kein statisches Kategoriensystem, sondern ein dynamisches Navigationsmodell. Sie ermöglicht Individuen, Organisationen und Plattformen, ihre Beziehungsmuster zu erkennen, zu differenzieren und neu zu gestalten – als Architektur einer menschlicheren digitalen Gesellschaft.