Studie

Wenn der Kunde stört - Zur narzisstischen Abwehr realer Beziehung in emotional überlasteten Organisationen im Zeitalter automatisierter Nähe

Autor
Brand Science Institute
Veröffentlicht
05. Mai 2025
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1. Forschungshintergrund und Problemstellung

Die strukturelle und technologische Fähigkeit von Unternehmen, ihre Kunden in Echtzeit zu analysieren, zu segmentieren und individuell anzusprechen, hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten grundlegend verändert. Die zunehmende Integration digitaler Systeme – von CRM-Plattformen über Social Listening und Predictive Analytics bis hin zu automatisierten Feedback- und Zufriedenheitstools – ermöglicht eine hochauflösende Beobachtung, Kategorisierung und Simulation von Kundenverhalten in nahezu allen Marktsegmenten. Der Kunde ist technisch permanent präsent: als Datenpunkt, als Verhaltenserwartung, als Ziel in Trichtern, Clustern und Dashboards. In der gegenwärtigen Marketingpraxis ist er allgegenwärtig – aber nicht mehr anwesend.

Diese paradoxale Konstellation ist das Zentrum dieser Studie: Die objektive Verfügbarkeit des Kunden erzeugt keine tiefere Beziehung, sondern eine psychologisch spürbare Distanz. Empirische Beobachtungen, qualitative Tiefeninterviews und ethnografische Studien zeigen, dass viele Kunden das Gefühl haben, trotz personalisierter Ansprache, individueller Angebote und angeblicher Kundenzentrierung „nicht wirklich gemeint“ zu sein. Sie erleben Unternehmen als blind für ihre realen Anliegen, emotional taub und beziehungsunfähig – eine Form struktureller Resonanzverweigerung trotz umfassender Datenlage.

Diese Diskrepanz verweist auf eine tiefere, nicht-technische Problematik. Sie ist weder auf mangelnde Tools noch auf falsche Strategien zurückzuführen, sondern verweist auf eine psychodynamische Leerstelle: den Verlust des Kunden als psychisches Gegenüber im inneren Erleben der Organisation. Durch die zunehmende Verdatung und Modellierung des Kunden verschiebt sich sein Status vom handelnden Subjekt zum Objekt betrieblicher Berechenbarkeit. Die Folge ist eine Entkörperlichung, die zugleich eine Entseelung bedeutet: Der Kunde wird zur Persona, zur KPI, zur Conversion Rate – aber nicht mehr als fühlendes, widersprüchliches, ambivalentes Wesen wahrgenommen. Das Unternehmen verliert ihn als Beziehungspartner.

Parallel dazu etablieren sich in Organisationen eigene geschlossene Realitäten, die von interner Logik, Tool-Orientierung, Zielsystemen und Selbstreferenz geprägt sind. Es entstehen sogenannte „organisational bubbles“ (Weick, 1979), in denen sich kollektive Deutungsmuster verfestigen, die zunehmend unabhängig von der Außenwelt operieren. Der reale Kunde wird durch eine projektionale Repräsentation ersetzt – ein simuliertes Gegenüber, das sich in Tools, Touchpoints und Journeys operationalisieren lässt, aber keine echte Beziehung mehr ermöglicht. Das psychische Gegenüber verschwindet im Abbild seiner Berechnung.

Diese Entwicklung ist nicht harmlos. Sie ist Ausdruck eines tiefgreifenden psychodynamischen Konflikts. Denn das permanente Feedback, die lückenlose Beobachtung und die ständige Vergleichbarkeit durch Kunden erzeugen eine latente narzisstische Kränkung der Organisation. Die Unternehmen stehen unter einem ständigen Erwartungsdruck, sollen omnipräsent, responsiv, fehlerfrei und empathisch zugleich agieren – ein Anspruch, der intern häufig als Überforderung erlebt wird. Die psychologische Reaktion auf diese Kränkung sind klassische Abwehrmechanismen: Verleugnung („Der Kunde weiß nicht, was er will“), Projektion („Der Markt ist unberechenbar“) oder Rationalisierung („Wir sind datengetrieben, das ist objektiv“). Empathieverlust ist in diesem Sinne nicht Symptom von Nachlässigkeit, sondern Ausdruck einer psychologischen Selbstschutzarchitektur.

Die vorliegende Studie geht diesem Zusammenhang systematisch und interdisziplinär auf den Grund. Sie verbindet tiefenpsychologische Modelle (u. a. Objektbeziehungstheorie, narzisstische Kränkung nach Kohut, Abwehrmechanismen nach Vaillant), organisationstheoretische Perspektiven (z. B. strukturelle Kopplung, Realitätsblasen, Systemautopoiesis) und sozialpsychologische Interaktionsforschung (z. B. para-soziale Beziehungstheorie, Empathieforschung, Reaktanztheorie). Auf dieser Basis wird ein theoretisches Modell entwickelt, das die Entfremdung des Kunden als psychodynamischen und strukturellen Prozess beschreibt – und nicht als Versagen operativer Systeme.

Begleitend wird eine empirische Erhebung unter Unternehmensmitarbeitern durchgeführt, um die theoretischen Annahmen quantitativ zu überprüfen und typische Muster empathischer Entkopplung, Datenverdrängung und organisationaler Realitätsverschiebung zu identifizieren. Ziel ist es, ein neues Verständnis für die psychologische Rolle des Kunden im Unternehmen zu schaffen – jenseits von Personas und Funnelmodellen. Denn solange der Kunde als externer Reiz und nicht als inneres Beziehungssubjekt wahrgenommen wird, bleibt Kundenzentrierung eine Simulation. Beziehung aber beginnt dort, wo Resonanz möglich wird.

2. Theoretischer Bezugsrahmen

Die vorliegende Studie basiert auf einem interdisziplinären theoretischen Fundament, das psychodynamische Theoriebildung mit organisationaler Realitätskonstruktion und interaktionistischer Sozialpsychologie verbindet. Zentrales Ziel ist es, das Phänomen der „empathischen Entfremdung trotz Datenfülle“ nicht als technisches Defizit oder strategisches Versäumnis, sondern als Ausdruck tiefer psychischer und struktureller Prozesse zu begreifen. Im Zentrum stehen dabei tiefenpsychologische Modelle, die aufzeigen, wie Organisationen mit der psychischen Realität ihrer Kunden umgehen – oder diese systematisch abwehren.

2.1. Tiefenpsychologische Modelle

Die Tiefenpsychologie bietet zentrale Konzepte zur Analyse der Beziehung zwischen Organisation und Kunde als psychischer Interaktion. Anders als behavioristische oder kognitivistische Ansätze geht sie von unbewussten Dynamiken, inneren Objektbildern, Affektabwehr und Beziehungsmustern aus, die Verhalten und Wahrnehmung nachhaltig beeinflussen. Im organisationalen Kontext wirken diese Mechanismen nicht nur individuell, sondern als kollektiv geteilte Realitätskonstruktionen – ein blinder Fleck in der klassischen Marktforschung.

Im Folgenden werden drei zentrale tiefenpsychologische Perspektiven für die Analyse unterlassener Resonanz im Unternehmen hergeleitet:

2.1.1. Objektbeziehungstheorie: Der Kunde als internalisiertes Objekt

Die Objektbeziehungstheorie zählt zu den zentralen Säulen der psychoanalytischen Nach-Freud’schen Theorieentwicklung. Im Mittelpunkt steht nicht der Trieb, sondern die Beziehung – insbesondere jene zu bedeutsamen Anderen, die im Laufe der frühen Entwicklung internalisiert und im psychischen Apparat als sogenannte „innere Objekte“ repräsentiert werden. Diese Repräsentanzen – emotional gefärbte Abbilder früher Beziehungserfahrungen – strukturieren Wahrnehmung, Affekte und Interaktionen auch im Erwachsenenalter (vgl. Klein, 1946; Winnicott, 1965; Kernberg, 1975).

Zentral ist die Annahme, dass äußere Personen nicht als reale Wesen begegnet werden, sondern immer durch die Brille dieser internalisierten Objekte. Begegnung ist daher nie neutral, sondern geprägt von unbewussten Projektionen, Affektübertragungen und Beziehungsmustern. In konfliktbeladenen oder komplexen sozialen Systemen – wie Organisationen – treten diese Mechanismen in kollektivierter, sozial strukturierter Weise auf: nicht als individuelle Pathologie, sondern als geteilte psychische Logik.

Übertragen auf den unternehmerischen Kontext lässt sich zeigen, dass der Kunde im psychischen Binnenraum der Organisation nicht als reale, ambivalente Person existiert, sondern als internalisiertes Objekt – ein psychisch codiertes Gegenüber, das bestimmten emotionalen Bedeutungen und Erwartungsstrukturen unterliegt. Dieses Objekt ist mit spezifischen Affekten aufgeladen: Hoffnung, Angst, Schuld, Entwertung, Idealisierung, Kontrolle. Der reale Kunde verschwindet hinter der Repräsentation seiner Bedeutung für das Selbstverständnis der Organisation.

Typisch ist eine bipolare Spaltung des Kundenbildes im Sinne Kleins (1946): Der „gute Kunde“ wird idealisiert – er ist loyal, versteht das Angebot, validiert das Geschäftsmodell und belohnt organisationales Handeln durch Kauf, Zufriedenheit oder positives Feedback. Demgegenüber steht der „schlechte Kunde“ – unberechenbar, kritisch, fordernd, illoyal, irrational. Dieses dichotome Denken stabilisiert die interne Welt der Organisation, verhindert aber psychologische Integration. Es kommt zu einem affektiven Schwarz-Weiß-Denken, das den Kunden nicht in seiner Widersprüchlichkeit wahrnimmt, sondern auf ein projektives Raster reduziert.

Diese psychodynamische Struktur hat tiefgreifende Auswirkungen: Sie blockiert die Fähigkeit zur emotional differenzierten Wahrnehmung. Der Kunde wird zum Container für unbewusste Affekte der Organisation – etwa für Angst vor Bedeutungslosigkeit, für narzisstische Selbstwertunsicherheit oder für unterdrückte Aggressionen gegenüber externen Anforderungen. Die Organisation nutzt ihn unbewusst als Projektionsfläche, um innere Spannungen zu externalisieren.

Das Resultat ist ein massiver Verlust an Resonanzfähigkeit: Zwar werden Kunden technisch hochgradig personalisiert – durch Segmentierung, individuelle Ansprache und datengestützte Journeys. Doch diese Personalisierung bleibt äußerlich. Psychologisch bleibt der Kunde unberührt. Die Beziehung ist keine Begegnung, sondern eine Simulation von Nähe – eine Beziehung zu einem Repräsentanten, nicht zum realen Menschen.

Darüber hinaus entstehen in komplexen Organisationen häufig konkurrierende Kundenbilder, die funktional ausdifferenziert sind: Der Vertrieb sieht im Kunden den Abschluss, das Marketing die Zielgruppe, der Service die Problemquelle, das Controlling den Kostenfaktor. Diese funktionale Fragmentierung psychischer Objektrepräsentanzen verstärkt die strukturelle Dissoziation: Der Kunde wird nicht als einheitliches, ganzheitliches Beziehungssubjekt gesehen, sondern in kontextabhängigen Teilbildern, die keine affektive Integration ermöglichen.

Aus Sicht der Objektbeziehungstheorie kann damit die zentrale These dieser Studie formuliert werden:

Unternehmen verlieren den Kunden nicht durch Informationsdefizite, sondern durch psychische Spaltungsprozesse, die ihn seiner Subjektqualität berauben.

Resonanz wird dadurch systematisch verhindert – nicht aus Ignoranz, sondern als Ausdruck tief verankerter affektiver Schutzstrategien innerhalb der organisationalen Psyche.

2.1.2. Abwehrmechanismen: Verleugnung, Projektion, Rationalisierung

Abwehrmechanismen gehören zum Kernbestand tiefenpsychologischer Theorie. Ursprünglich von Sigmund Freud (1926) als unbewusste Strategien zur Abwehr innerpsychischer Konflikte und unangenehmer Affekte konzipiert, wurden sie insbesondere durch Anna Freud (1936) und später George Vaillant (1992) systematisiert und weiterentwickelt. Vaillant ordnete sie entlang eines Reifegradmodells an – von unreifen, realitätsverzerrenden bis hin zu reifen, integrativen Mechanismen. Im organisationalen Kontext gewinnen diese Mechanismen besondere Bedeutung, weil sie nicht nur individuell, sondern kollektiv wirksam werden – als strukturierte Formen psychischer Selbstregulation ganzer Systeme.

Organisationen, die unter permanentem Wettbewerbsdruck, hoher Erwartung an Kundenorientierung und ständiger Markttransparenz agieren, entwickeln – oft unbewusst – spezifische psychodynamische Schutzmuster. Diese Abwehrmechanismen schützen vor der Konfrontation mit komplexen, widersprüchlichen oder affektiv belastenden Kundenrealitäten. Die Beziehung zum Kunden wird dadurch nicht nur gestört, sondern systematisch deformiert. Drei Abwehrformen treten dabei besonders häufig und folgenreich auf:

Verleugnung (Denial)

Verleugnung ist einer der basalsten Abwehrmechanismen. Er beschreibt die unbewusste Weigerung, als bedrohlich empfundene Realitäten anzuerkennen. Im organisationalen Kontext äußert sich Verleugnung oft in der Entwertung oder Bagatellisierung tatsächlicher Kundenstimmen. Feedback wird ignoriert („Das ist nicht unsere Zielgruppe“), Beschwerden entpersonalisiert („Das war ein Einzelfall“), negative Bewertungen externalisiert („Die Plattform ist sowieso nicht repräsentativ“). Die Organisation schützt sich dadurch vor der narzisstischen Kränkung durch den Kunden – indem sie seine Realität einfach ausblendet.

Diese Form der Abwehr ist gefährlich, weil sie strukturell abgesichert ist. In vielen Organisationen existieren keine Prozesse zur echten Auseinandersetzung mit Dissonanzen. Stattdessen werden kognitive Bestätigungsprozesse institutionalisiert: Nur positives Feedback wird in Präsentationen zitiert, kritische Rückmeldungen werden als nicht „zielgruppenadäquat“ diskreditiert. Es entsteht ein psychologisches Klima selektiver Wahrnehmung, das die Grundlage echter Beziehung – die Anerkennung der Andersheit des Anderen – unterminiert.

Projektion

Projektion beschreibt die unbewusste Übertragung eigener unerwünschter Impulse, Ängste oder Schwächen auf das Gegenüber. In Organisationen zeigt sich Projektion insbesondere in der Tendenz, Unsicherheiten oder Unzulänglichkeiten auf den Kunden zu verlagern. Typische Aussagen lauten: „Der Kunde weiß nicht, was er will“, „Die Leute sind überfordert mit unserer Innovation“, „Der Markt ist irrational.“

Diese Form der Abwehr stabilisiert das Selbstbild der Organisation – sie selbst ist kompetent, klar, innovativ –, während der Kunde als verwirrter, überforderter oder widersprüchlicher Akteur konstruiert wird. Dahinter steht oft die Angst vor Kontrollverlust: Der Kunde als unberechenbarer Faktor wird zum psychischen Störfeld erklärt, das für interne Ambivalenzen verantwortlich gemacht wird. Die reale Beziehung wird durch ein verzerrtes Objektbild ersetzt – siehe auch 2.1.1 – wodurch echte Verständigung blockiert wird.

Rationalisierung

Rationalisierung ist ein höher entwickelter, aber nicht minder folgenreicher Abwehrmechanismus. Er beschreibt die Umdeutung emotional oder moralisch besetzter Erfahrungen in scheinbar sachlich-logische Erklärungen. In Unternehmen ist Rationalisierung besonders verbreitet, weil sie dem Ideal betrieblicher Rationalität entspricht. Emotionale Rückzugsprozesse – etwa mangelnde Empathie, Berührungsangst oder Beziehungsschwäche – werden durch KPI-orientierte Argumentationen überdeckt: „Wir optimieren entlang der Datenlage“, „Unsere Segmentierung ist wissenschaftlich fundiert“, „Der Markt fordert Effizienz.“

Diese kognitive Versachlichung entzieht dem Kundenkontakt seine emotionale Dimension. Sie verwandelt Beziehung in Prozess, Kommunikation in Steuerung und Bedürfnis in Nachfragepunkt. Die Organisation immunisiert sich damit gegen die Zumutung echter Begegnung. Affektive Resonanz wird durch strukturierte Messbarkeit ersetzt – ein scheinbar professioneller, in Wirklichkeit aber tief ambivalenter Vorgang.

Abwehr als kollektive Selbstregulation

Alle genannten Mechanismen erfüllen auf organisationaler Ebene eine zentrale Funktion: Sie schützen das kollektive Selbstbild vor Irritation, Komplexität und psychischem Kontrollverlust. In dieser Funktion sind sie nicht pathologisch, sondern strukturell adaptiv – zumindest kurzfristig. Langfristig jedoch führen sie zu einer Entfremdung vom psychischen Erleben des Kunden, zu einer Erosion von Resonanzfähigkeit und letztlich zur Entkoppelung der Organisation von ihrer sozialen Umwelt.

Die emotionale Wirklichkeit des Kunden wird dadurch nicht nur verkannt, sondern aktiv abgewehrt. Die Beziehung zum Kunden bleibt auf eine „kognitive Oberfläche“ beschränkt, während die affektive Tiefe unberührt bleibt – oder bewusst ausgespart wird. Organisationen, die sich so strukturieren, erzeugen paradoxerweise genau das, was sie zu vermeiden suchen: eine zunehmende Irritation des Kunden und eine abnehmende Loyalität – nicht trotz, sondern wegen ihrer inneren Abwehr.

2.1.3. Narzisstische Kränkung: Feedback als Bedrohung organisationaler Integrität

Die Theorie der narzisstischen Kränkung gehört zu den zentralen Konzepten der Selbstpsychologie, wie sie von Heinz Kohut (1971, 1977) entwickelt wurde. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass das Selbst nicht stabil und autonom gegeben ist, sondern auf Spiegelung und Bestätigung durch bedeutsame Objekte angewiesen bleibt – auch im Erwachsenenalter und in kollektiven Systemen wie Organisationen. Das Streben nach Selbstkohärenz, nach dem Erleben von Bedeutung, Kompetenz und Wirksamkeit ist dabei kein individuelles Phänomen, sondern ein strukturelles Grundbedürfnis von Systemen, die sich im sozialen Raum behaupten müssen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Kundenfeedback – insbesondere in digital transparenten Märkten – zur narzisstischen Bedrohung werden kann. Denn wo Unternehmen in Echtzeit, öffentlich, permanent und unkontrollierbar mit Bewertungen, Kommentaren, Beschwerden oder Nicht-Beachtung konfrontiert werden, entsteht ein emotionaler Hochdruckraum. Die Organisation steht unter ständiger Beobachtung – und damit unter ständiger Gefahr der Kränkung ihres Selbstbildes.

Insbesondere Unternehmen, die sich selbst als kundenorientiert, innovativ oder „nah am Markt“ definieren, sind verletzbar. Denn je höher das Idealbild, desto größer das Risiko, dass reale Rückmeldungen als Affront erlebt werden. Kundenfeedback wird dann nicht als Einladung zur Korrektur oder Weiterentwicklung verstanden, sondern als Infragestellung organisationaler Integrität. Das Unternehmen fühlt sich im Kern verletzt – nicht, weil der Kunde Kritik äußert, sondern weil diese Kritik den narzisstischen Anspruch auf Konsistenz, Überlegenheit oder Relevanz unterläuft.

Die psychodynamische Reaktion darauf ist keine rationale Auseinandersetzung, sondern eine Abwehrreaktion auf der Ebene des Selbstwertschutzes. Diese kann unterschiedliche Formen annehmen:

  • Entwertung des Kunden: „Die sind halt irrational, wechselhaft, uninformiert.“
  • Pathologisierung des Feedbacks: „Das sind Einzelfälle, Trolle, Querulanten.“
  • Externalisierung der Verantwortung: „Das Problem liegt bei der Agentur, im Vertrieb, bei externen Faktoren.“

In allen Fällen wird deutlich: Der Kunde wird nicht als Beziehungspartner gesehen, sondern als narzisstisches Risiko. Beziehung wird zum potenziellen Angriff. Der psychologische Reflex lautet nicht Öffnung, sondern Rückzug – und dieser Rückzug wird systemisch abgesichert: durch Prozesse, durch Delegation an Tools, durch entemotionalisierte Feedback-Systeme und durch formalisiertes „Listening“, das nicht mehr hören will, sondern beruhigen.

Besonders problematisch ist, dass diese Reaktion häufig mit der Ideologie der Kundenzentrierung kollidiert. Die Organisation inszeniert sich nach außen als kundenorientiert, offen, lernbereit – agiert aber nach innen mit narzisstischer Abwehr, Kontrolle und Distanz. Es entsteht eine strukturelle Dissonanz zwischen Selbstbeschreibung und tatsächlicher Beziehungsfähigkeit. Kunden spüren diese Dissonanz intuitiv – als Kälte, als Unverbindlichkeit, als performative Nähe ohne echtes Interesse.

Im Sinne Kohuts lässt sich formulieren:

Der Kunde wird nicht mehr als Spiegelobjekt für das Selbstwertsystem der Organisation integriert, sondern als Störgröße externalisiert – mit der Folge, dass Resonanz nicht nur unterbleibt, sondern unmöglich gemacht wird.

Das hat weitreichende Folgen. Denn Resonanz im Sinne Rosa (2016) entsteht nur dort, wo das Gegenüber nicht nur als Reiz, sondern als Subjekt anerkannt wird – als etwas, das antworten kann, das zurückwirkt, das berührt. Wird der Kunde hingegen narzisstisch abgewehrt, bleibt Beziehung nur als Simulation übrig. Nähe wird technisch choreografiert, aber psychologisch nicht zugelassen. Feedback wird verarbeitet, aber nicht internalisiert. Marken sprechen, aber hören nicht. Sie senden, aber lassen keine Wirkung zu. Der Kunde wird zur Kulisse einer Beziehung, die es real nicht mehr gibt.

Die narzisstische Kränkung des Unternehmens ist daher kein Nebeneffekt moderner Märkte, sondern eine zentrale psychodynamische Kraft hinter der Entfremdung vom Kunden – eine stille Eskalation zwischen digitaler Hypertransparenz und innerer Berührungsvermeidung, die den Resonanzraum zwischen Unternehmen und Markt systematisch zerstört.

2.2. Sozialpsychologische Konstrukte

Während tiefenpsychologische Modelle die unbewusste Verarbeitung von Beziehungserfahrungen und affektiven Bedrohungen innerhalb organisationaler Systeme fokussieren, liefern sozialpsychologische Theorien eine erklärungsstarke Perspektive auf die soziale Interaktion, Kommunikation und Wahrnehmung zwischen Organisation und Kunde. Sie beschreiben, wie Nähe, Präsenz und Beziehung in modernen Kommunikationssystemen simuliert, reguliert oder entleert werden – und wie daraus systematische Missverhältnisse zwischen objektiver Informationsdichte und subjektiver Beziehungserfahrung entstehen.

Die folgenden drei Konzepte sind für das Verständnis des empathischen Rückzugs trotz datengetriebener Kundennähe zentral:

2.2.1. Para-soziale Interaktionen: Die Simulation von Beziehung

Der Begriff der para-sozialen Interaktion wurde 1956 von Donald Horton und Richard Wohl geprägt, um ein neues, durch elektronische Massenmedien erzeugtes Beziehungsphänomen zu beschreiben: Zuschauer entwickeln ein Gefühl von Intimität, Vertrautheit und Beziehung zu Fernsehmoderatoren, obwohl diese keine reale, reziproke Interaktion mit ihnen eingehen. Die Beziehung bleibt strukturell einseitig – aber subjektiv wird sie als bedeutungsvoll, vertrauensvoll und persönlich erlebt.

Dieses Konzept hat durch die Digitalisierung und Automatisierung der Kundenkommunikation neue Bedeutung erlangt. Was einst für TV-Moderatoren galt, gilt heute für Marken, Plattformen und KI-basierte Systeme, die personalisierte Nähe simulieren: Chatbots sprechen mit „menschlichem Tonfall“, Recommendation Engines „verstehen“ Vorlieben, Trigger-Mails reagieren auf das Verhalten „in Echtzeit“, und Customer Journeys erzeugen einen Anschein von biografischer Begleitung. Die Markenkommunikation suggeriert Zuwendung, Verstehen und Dialog – ohne reale Beziehung, ohne gegenseitige Kontingenz.

Diese Kommunikation ist nicht manipulativ im klassischen Sinne. Sie ist funktional. Sie erfüllt zentrale Anforderungen moderner Marktkommunikation: Skalierbarkeit, Effizienz, Reaktionsgeschwindigkeit, Personalisierung. Sie erzeugt responsive Verhaltensweisen beim Kunden – Klicks, Conversions, Wiederkäufe. Doch was sie dabei zurücklässt, ist eine leere Beziehungshülle: Nähe ohne Berührung, Intimität ohne Gegenseitigkeit, Antwort ohne Begegnung.

Aus tiefenpsychologischer Perspektive entsteht eine projektive Interaktionsstruktur, in der der Kunde seine Beziehungswünsche in eine kommunikative Oberfläche hineinprojiziert, die keine psychische Tiefe hat. Die Organisation bleibt unangreifbar, unberührbar – geschützt durch Automatisierung, Standardisierung und Kanalkontrolle. Die Beziehung ist ästhetisch inszeniert, aber psychologisch geschlossen. Der Kunde bleibt strukturell allein.

Für die Organisation hat diese Kommunikationsform entlastende Funktionen: Sie erlaubt Nähe ohne Risiko, Feedback ohne Kontrollverlust, Responsivität ohne Involviertheit. Doch dieser psychologische Schutz hat einen Preis: Die Fähigkeit zur echten Beziehung wird verlernt. Mitarbeitende interagieren zunehmend mit Templates, Frameworks und Regelwerken statt mit Menschen. Die emotionale Logik des Kunden wird nicht aufgenommen, sondern in Journey Maps transformiert. Kommunikation wird damit zur Simulation von Beziehung, in der nicht mehr gesprochen, sondern orchestriert wird.

Empirisch zeigt sich, dass Kunden auf diese Struktur zunehmend mit emotionaler Erschöpfung, Irritation oder Entfremdung reagieren. Sie spüren die künstliche Textur der Kommunikation, das Fehlen echter Responsivität, das Ungleichgewicht zwischen Information und Involviertheit. Viele erleben eine paradoxe Kommunikationslage: Sie werden mit Namen angesprochen, aber nicht als Person gemeint. Sie erhalten personalisierte Inhalte, fühlen sich aber psychologisch anonymisiert. Die Folge ist ein Verlust an Vertrauen, Anschlussfähigkeit und echter Markenbindung.

Für Organisationen bedeutet das eine stille Krise: Sie kommunizieren mehr denn je – und erreichen psychologisch immer weniger. Sie sind sprachlich präsent, aber emotional abwesend. Die Kundenbeziehung bleibt kognitiv durchdacht, technisch durchoptimiert, aber psychisch leer. Die para-soziale Interaktion erzeugt damit ein strukturelles Missverhältnis zwischen Schein und Sein, das langfristig nicht nur die Bindung schwächt, sondern auch die Empathiefähigkeit innerhalb der Organisation selbst unterminiert.

Aus dieser Analyse ergibt sich eine zentrale These:

Die moderne Unternehmenskommunikation leidet nicht an einem Mangel an Personalisierung, sondern an einem Übermaß an simulierten Beziehungen ohne psychische Gegenseitigkeit.

Das para-soziale Beziehungsmodell erfüllt kurzfristig ökonomische Zwecke – langfristig aber verhindert es Resonanz, reduziert Vertrauen und zerstört die Fähigkeit zur echten Begegnung. Der Kunde wird gehört, aber nicht gespürt. Die Organisation spricht, aber sie antwortet nicht. Beziehung bleibt ein Kommunikationsdesign – kein psychologisches Ereignis.

2.2.2. Organizational Reality Bubbles: Die Selbstreferenzialität der Organisation

Karl Weick (1979) formuliert mit seinem Konzept des Sensemaking in Organizations eine grundlegende Theorie organisationaler Realitätskonstruktion. Er argumentiert, dass Organisationen keine objektiven Wirklichkeiten abbilden, sondern eigene Sinnsysteme konstruieren. Diese Konstruktion erfolgt nicht willkürlich, sondern nach systemimmanenten Selektionsprinzipien: durch Wiederholung, Kontextualisierung, semantische Rahmung, Prozessroutinen und institutionalisierte Erwartungsmuster.

Im Ergebnis entstehen sogenannte Organizational Reality Bubbles – abgeschlossene Bedeutungsräume, in denen bestimmte Perspektiven, Informationen und Deutungen privilegiert werden, während andere systematisch ausgeschlossen oder entwertet werden. Diese Blasen sind nicht zufällig, sondern funktional. Sie sichern Kohärenz, ermöglichen Handlungsfähigkeit und reduzieren Komplexität. Doch gerade in der Beziehung zum Kunden erweisen sie sich als hoch problematisch.

Denn der reale Kunde – mit seiner emotionalen Ambivalenz, Unberechenbarkeit, Widersprüchlichkeit und manchmal auch Irrationalität – passt in vielen Fällen nicht in das durchgeordnete System organisationaler Erwartbarkeit. Der Kunde wird nur dann „gesehen“, wenn er in bestehende Raster fällt: klar segmentierbar, datenkompatibel, rückmeldungsbereit, kaufkräftig, KPI-relevant. Er wird zur Anschlussstelle für die Kommunikationslogik der Organisation – nicht als Mensch, sondern als operationalisierbares Reizelement.

Kundenrealitäten, die außerhalb dieser Blase liegen – etwa tieferliegende Bedürfnisse, implizite Affekte, widerständige Haltungen, Irritationen oder latente Kritik – bleiben systematisch unsichtbar. Nicht, weil sie absichtlich verdrängt würden, sondern weil sie nicht anschlussfähig an das Semantiksystem der Organisation sind. Die Organisation erkennt sie nicht, weil sie sie nicht erkennen kann. Sie verfügt nicht über die psychologischen Formate, um komplexe Beziehungssignale zu integrieren. So entstehen blinde Flecken – systematisch, stabil und selbstverstärkend.

Diese Form selektiver Wahrnehmung ist eine kollektive Abwehrleistung. Sie dient dem Schutz der organisationseigenen Identität: Wer sich als kundenzentriert, innovativ oder serviceorientiert versteht, kann die Realität abweichender Kundenwahrnehmung nur schwer integrieren. Also wird nicht der Selbstanspruch korrigiert – sondern die Deutung des Kunden. Es gilt das Primat der internen Kohärenz über die externe Irritation.

Beispielhaft zeigt sich diese Struktur in strategischen Zielsystemen, OKRs, KPI-basierten Performance-Modellen oder standardisierten CX-Frameworks: Rückmeldungen, die sich nicht in KPIs übersetzen lassen, gelten als unbrauchbar; Kunden, die keine quantifizierbare Journey durchlaufen, gelten als nicht relevant; Abweichungen werden entweder als „Ausreißer“ oder „nicht im Fokus liegend“ entwertet. Die Organisation „organisiert“ sich so ihre eigene Außenwelt – funktional stimmig, psychologisch blind.

Besonders kritisch ist, dass diese Blasenbildung nicht bewusst oder absichtlich erfolgt, sondern durch strukturierte Kommunikation, formale Entscheidungsprozesse und semantische Disziplinierung. So entsteht eine Realität, in der alle glauben, kundenzentriert zu sein – obwohl der Kunde psychologisch längst abwesend ist. Die Beziehung zum Markt wird dadurch nicht aktiv abgebrochen, sondern durch die eigene Wirklichkeitslogik stillgelegt.

Diese Entkoppelung ist besonders schwer zu korrigieren, da sie nicht als Problem erscheint. Sie wird nicht erlebt als Mangel an Beziehung, sondern als Mangel an Effizienz, an Tools, an Analytics. Die Reaktion darauf ist meist eine technologische Intensivierung: noch mehr Daten, noch präzisere Segmentierung, noch differenziertere Personas. Doch diese Maßnahmen verstärken oft nur die innere Selbstreferenz, statt die psychische Durchlässigkeit zum Kunden zu erhöhen.

Aus Sicht der Resonanztheorie (Rosa, 2016) liegt hier ein zentraler Resonanzbruch: Der Kunde ruft – aber die Organisation antwortet nur, wenn sie den Ruf bereits kennt. Die Möglichkeit echter Begegnung wird durch die Vorformung der Wahrnehmung blockiert. Der Kunde wird nicht mehr als Subjekt wahrgenommen, sondern als Funktionsträger im eigenen System. Beziehung wird zur Funktion – und damit unhörbar für das, was den Kunden jenseits der Daten bewegt.

Die daraus abgeleitete These lautet:

Die Organisation erkennt den Kunden nicht, weil sie ihn nur sehen kann, wenn er der von ihr erzeugten Realität entspricht. Was nicht ins System passt, existiert nicht – nicht für das Unternehmen.

Diese psychologisch-organisational bedingte Realitätsträgheit führt dazu, dass Unternehmen strukturell taub für ihre Kunden werden – nicht, weil sie nicht zuhören wollen, sondern weil sie nicht mehr hören können. Die eigene Sprache hat sich verselbständigt. Beziehung wird dadurch nicht verweigert – sie wird schlicht nicht mehr verstanden.

2.2.3. Empathic Dissonance: Nähe ohne affektive Verbindung

Empathie gilt in der sozialpsychologischen Forschung als ein zentrales Konstrukt gelingender Beziehung: Sie bezeichnet die Fähigkeit, sich in die Perspektive, Gedanken und Gefühle eines anderen hineinzuversetzen und auf diese innerlich zu reagieren (Davis, 1983). Empathie umfasst dabei sowohl kognitive Komponenten (Perspektivübernahme, Theory of Mind) als auch affektive Resonanz (emotionale Teilhabe, Mitgefühl). Gerade in kundenbezogenen Systemen wird Empathie zunehmend als „Soft Skill“ proklamiert – in Serviceleitbildern, Leadership-Modellen oder Customer Experience Frameworks. Doch der bloße Appell an Empathie verdeckt häufig eine tiefere strukturelle Störung: das Phänomen der Empathic Dissonance.

Jamil Zaki (2014) beschreibt Empathic Dissonance als eine paradoxe Spannungsstruktur, in der kognitive Nähe zu einer Person oder Gruppe mit affektiver Distanz einhergeht. Je mehr Informationen über den anderen vorliegen – durch Daten, Verhaltensanalysen, Segmente, Persona-Modelle oder psychografische Typologien – desto stärker kann das Gefühl entstehen, den anderen „zu kennen“. Doch dieses Wissen bleibt häufig analytisch, instrumentell, strategisch. Es erzeugt keine Beziehung, sondern strukturiert eine Form der funktionalen Beobachtung. Der andere wird verstanden – aber nicht gespürt.

Im organisationalen Kontext zeigt sich diese Dissonanz besonders deutlich in datengetriebenen Kundenbeziehungen. Unternehmen verfügen heute über ein historisch einmaliges Maß an Kundenwissen: Verhalten kann in Echtzeit getrackt, Emotionen über Sentiment Analysis erfasst, Bedürfnisse prognostiziert werden. Doch dieses Wissen erzeugt keine affektive Bewegung. Im Gegenteil: Je granularer und berechenbarer der Kunde erscheint, desto stärker verschwindet er als psychisches Gegenüber.

Das Paradox besteht darin, dass Empathie zwar semantisch ständig beschworen wird, praktisch aber zunehmend unterläuft. Die Organisation kennt den Kunden – aber nicht als Person, sondern als Aggregat von Datenpunkten. Sie spricht ihn an – aber nicht affektiv, sondern algorithmisch. Sie bietet Lösungen an – aber ohne inneres Mitschwingen. Es entsteht eine Beziehung der Durchsichtigkeit ohne Gegenseitigkeit. Der Kunde ist vollkommen bekannt, aber innerlich unberührt.

Für die Mitarbeitenden in der Organisation führt diese Dissonanz zu einer psychischen Überforderung. Denn sie werden konfrontiert mit der Anforderung, empathisch zu handeln, ohne in einem empathischen System zu arbeiten. Der Kontakt zum Kunden ist hochfrequent, kanalreich und technisch vermittelt – aber selten emotional reziprok. Das führt zu inneren Konflikten, etwa in Form von Empathievermeidung („Ich muss mich abgrenzen“) oder Zynismus („Der Kunde will doch nur Rabatt“). Die emotionale Schließung ist dabei kein Defizit, sondern ein psychischer Selbstschutz gegen strukturelle Entfremdung.

In ihrer systemischen Wirkung führt Empathic Dissonance zu einer psychologischen Entkopplung von Organisation und Kunde. Beziehung wird zur kognitiven Leistung, aber nicht mehr zur affektiven Bewegung. Die Organisation ist „kundenzentriert“ im semantischen Sinne – aber psychologisch leer. Die Folgen sind vielfältig:

  • Kunden empfinden Kommunikation als korrekt, aber seelenlos.
  • Mitarbeiter erleben Beziehung als oberflächlich und instrumentell.
  • Innovationsprozesse verlieren den emotionalen Bezug zum realen Bedürfnis.
  • Marke und Markt entfernen sich – trotz intensiver Vernetzung.

Diese Entwicklung ist besonders tückisch, weil sie nicht durch Desinteresse, sondern durch Überstrukturierung, Übersteuerung und semantische Übersättigung ausgelöst wird. Die empathische Dissonanz ist nicht die Folge von Ignoranz, sondern das Resultat einer zu stark kognitivierten Kundenbeziehung, in der Affekt nicht vorgesehen ist – und deshalb systematisch fehlt.

Die zentrale These lautet daher:

Empathie scheitert nicht am Fehlen von Daten, sondern an deren psychischer Entkopplung vom affektiven Selbstverständnis der Organisation.

Die Wiederherstellung echter Empathie ist somit keine Trainingsfrage, sondern eine Frage struktureller Resonanzfähigkeit. Organisationen müssen lernen, weniger zu wissen und mehr zu spüren, weniger zu kontrollieren und mehr zu antworten. Nur so kann das psychologische Moment der Begegnung wieder aktiviert werden – jenseits von Simulation, jenseits von Reaktion, jenseits von Journey. Denn Empathie beginnt dort, wo sich Organisationen verletzlich machen – und nicht dort, wo sie sich absichern.

3. Hypothesen

Auf Basis der vorangegangenen theoretischen Analyse ergeben sich zentrale psychologisch und organisationssoziologisch fundierte Hypothesen, die das Phänomen des Empathieverlusts trotz Datenfülle empirisch untersuchbar machen. Ziel ist es, die Beziehungsqualität zwischen Organisation und Kunde nicht als Ergebnis technischer Infrastruktur, sondern als Ausdruck psychodynamischer, kognitiver und struktureller Prozesse zu modellieren. Die Hypothesen verknüpfen zentrale Konzepte der Tiefenpsychologie, Sozialpsychologie und Organisationsforschung mit messbaren Variablen und dienen der operationalisierten Überprüfung des in Kapitel 2 entwickelten Problemraums.

H1: Je höher die wahrgenommene Datenverfügbarkeit über Kunden, desto geringer die subjektive emotionale Nähe zu diesen.

Diese Hypothese basiert auf dem Konzept der empathic dissonance (Zaki, 2014) sowie auf der Annahme, dass kognitive Nähe ohne affektive Resonanz paradoxerweise zu emotionaler Distanz führen kann. Je mehr Unternehmen über Kunden wissen – in Form von Daten, Segmenten, Touchpointverläufen –, desto stärker droht der Verlust des realen Beziehungssubjekts hinter der Datenstruktur. Die kognitive Verarbeitung ersetzt die emotionale Rezeption. Dies führt dazu, dass Mitarbeitende zwar analytisch orientiert agieren, sich dem Kunden jedoch psychologisch entfremden. Die These lautet daher: Datenwissen ersetzt Beziehung statt sie zu fördern.

H2: Die wahrgenommene Nähe zum Kunden wird negativ moderiert durch den organisationalen KPI-Fokus.

Diese Hypothese ist anschlussfähig an systemtheoretische und organisationale Perspektiven (Weick, 1979; Luhmann, 1997), die beschreiben, wie Organisationen ihre Wirklichkeit durch Messbarkeit strukturieren. Ein starker KPI-Fokus wirkt als semantischer Filter, durch den Kundenwahrnehmung nur noch dann stattfindet, wenn sie quantifizierbar ist. Dies führt zu einer Reduktion affektiver Signale zugunsten von Zählbarem – und verhindert damit psychologische Resonanz. Die Hypothese impliziert einen Moderationseffekt: Auch bei gleicher Datenverfügbarkeit ist das Ausmaß der empfundenen Nähe zum Kunden geringer, wenn der KPI-Fokus dominant ist. Kundenbeziehung wird dadurch zur metrischen Steuerungsgröße – nicht zur intersubjektiven Erfahrung.

H3: Die Nutzung automatisierter Kundenkommunikationstools (z. B. Chatbots, Trigger-Mails) korreliert negativ mit der subjektiv empfundenen Kundenverantwortung der Mitarbeitenden.

Diese Hypothese stützt sich auf das Konzept der para-sozialen Interaktion (Horton & Wohl, 1956) sowie auf psychodynamische Modelle von Abwehr durch Delegation. Die Automatisierung von Kundeninteraktion erzeugt den Eindruck von Nähe, ohne personale Verantwortung zu implizieren. Mitarbeitende, die primär über Tools kommunizieren, entwickeln eine verlagerte Verantwortungswahrnehmung: Die Beziehung wird technisch gemanagt, nicht psychologisch gehalten. Daraus resultiert ein Rückgang des subjektiven Verantwortungsgefühls – im Sinne eines emotionalen Disengagements, das durch Toolnutzung strukturell gefördert wird.

H4: Mitarbeitende mit hoher Ambiguitätsintoleranz neigen stärker dazu, Kundenbedürfnisse als bedrohlich oder unklar zu empfinden.

Diese Hypothese basiert auf klassisch sozialpsychologischen Konstrukten wie der Ambiguitätstoleranz (Budner, 1962; McLain, 1993) sowie auf tiefenpsychologischen Theorien zur Übertragungsangst in asymmetrischen Beziehungen. Kundenbedürfnisse sind oft mehrdeutig, unausgesprochen oder emotional codiert – und stellen damit ein latentes Bedrohungspotenzial für Personen dar, die Ambiguität schlecht aushalten. In solchen Fällen wird der Kunde nicht als „Ansprechpartner“, sondern als Störfaktor oder Belastung erlebt. Die Hypothese besagt daher: Die psychologische Toleranz gegenüber Unklarheit ist ein zentraler Prädiktor für empathiefähige Kundenbeziehungen.

H5: Unternehmen mit ausgeprägter interner Kommunikationsdominanz (z. B. Fokus auf Meetings, Abstimmungen, KPI-Tracking) zeigen signifikant geringere Empathiewerte im externen Kundenkontakt.

Diese Hypothese greift das Konzept der organizational reality bubbles (Weick, 1979) auf: Wenn die interne Kommunikation dominiert – durch Prozesse, Reportingstrukturen, Performancegespräche –, wird der psychische Resonanzraum für Außenkontakte eingeschränkt. Die Organisation beginnt, sich selbst zu spiegeln, statt sich im Anderen zu erkennen. Mitarbeitende richten ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf interne Anschlussfähigkeit, statt auf externe Beziehungskomplexität. Die Folge ist ein psychologischer Verschluss gegenüber der Kundenrealität. Die Hypothese geht davon aus, dass dieser Binnenfokus mit einem Rückgang empathischer Kompetenz einhergeht – weil das Gegenüber als Kontext, nicht als Subjekt wahrgenommen wird.

Zusammenfassung der theoretischen Annahmen

Diese Hypothesen modellieren ein konsistentes, psychologisch fundiertes System aus Informationsüberlastung, Beziehungsdefizit, struktureller Entfremdung und affektiver Abwehr. Sie ermöglichen die empirische Prüfung der in Kapitel 2 entwickelten Annahmen zur psychodynamischen Deformation moderner Kundenbeziehungen. Gleichzeitig liefern sie Ansatzpunkte für organisationale Interventionen, die nicht auf mehr Tools, sondern auf mehr psychologische Durchlässigkeit zielen.

4. Untersuchungsdesign und Operationalisierung

Zur empirischen Überprüfung der im vorangegangenen Kapitel entwickelten Hypothesen wurde ein theoriebasiertes, psychologisch fundiertes und zugleich methodisch praktikables Untersuchungsdesign gewählt. Ziel war es, die psychodynamisch und sozialpsychologisch begründeten Konstrukte im Rahmen eines quantitativen Survey-Designs so zu operationalisieren, dass sowohl empirische Prüfungsfähigkeit als auch psychologische Tiefenschärfe gewährleistet sind. Die Untersuchung wurde mit einer realistischen, aber belastbaren Stichprobengröße durchgeführt, um sowohl deskriptive als auch inferenzstatistische Auswertungen mit ausreichender Trennschärfe zu ermöglichen.

4.1 Studiendesign

Die empirische Erhebung erfolgte im Rahmen einer standardisierten Online-Befragung. Die Befragung richtete sich an berufstätige Personen mit regelmäßigem Kundenkontakt oder strategischer Verantwortung in der Kundenbeziehung – insbesondere aus den Bereichen Marketing, Vertrieb, Customer Experience, Kommunikation und Produktentwicklung. Die Datenerhebung fand zwischen dem 4. März und dem 12. April 2025 statt. Die Teilnahme erfolgte anonymisiert und freiwillig über ein DSGVO-konformes Survey-Tool (eigene Panelrekrutierung in Kombination mit B2B-Zielgruppen-Access). Die durchschnittliche Bearbeitungszeit betrug 18 Minuten.

  • Stichprobengröße: n = 411
  • Stichprobenstruktur: mehrstufig-stratifiziert nach Branche, Unternehmensgröße und Funktionsebene
  • Einschlusskriterien: min. 1 Jahr Berufserfahrung, regelmäßiger Bezug zu Kundeninteraktion oder -strategie
  • Branchenspektrum: Konsumgüter, Dienstleistungen, Industrie, Tech, öffentliche Organisationen
  • Erhebungsform: selbstgesteuertes Online-Survey (strukturierter Fragebogen, überwiegend geschlossene Skalen)

4.2 Operationalisierung der zentralen Konstrukte

Im Folgenden werden die theoretischen Konstrukte der Hypothesen in ihre empirischen Messdimensionen überführt. Es wurden entweder bewährte Skalen aus der Literatur verwendet oder – falls keine etablierten Instrumente vorlagen – theoriebasierte, neu entwickelte Items eingesetzt, die in einem Pretest (n = 24) auf Verständlichkeit und Trennschärfe geprüft wurden.

1. Wahrgenommene Datenverfügbarkeit über Kunden

Zur Erfassung des Konstrukts wurde eine eigene 5-Item-Skala entwickelt, die die subjektive Einschätzung der verfügbaren Kundendaten misst. Die Skala erfasst sowohl die Menge als auch die Qualität und Anwendungsbreite der Daten.

Beispielitems:

  • „In meinem Arbeitskontext stehen uns sehr viele Daten zur Verfügung, um unsere Kunden zu verstehen.“
  • „Ich habe Zugriff auf differenzierte Kundensegmente, um unsere Kommunikation gezielt zu steuern.“
  • „Die vorhandenen Daten erlauben es mir, Kundenverhalten präzise vorherzusagen.“

Antwortformat: 7-stufige Likert-Skala (1 = trifft überhaupt nicht zu bis 7 = trifft voll und ganz zu)
Reliabilität (Cronbach’s α): .84

2. Emotionale Nähe zum Kunden

Die emotionale Nähe wurde über eine modifizierte Version der Customer Empathy Scale operationalisiert (nach Zaki, 2014), ergänzt um affektiv betonte Items zur subjektiven Berührbarkeit.

Beispielitems:

  • „Ich kann mich emotional in unsere Kunden hineinversetzen.“
  • „Ich spüre, wie sich unsere Kunden mit unseren Leistungen fühlen.“
  • „Es ist mir persönlich wichtig, dass sich unsere Kunden psychologisch verstanden fühlen.“

Antwortformat: 7-stufige Likert-Skala
Reliabilität: α = .88

3. KPI-Fokus

Zur Erhebung des organisationalen KPI-Fokus wurde eine Skala entwickelt, die den subjektiv erlebten Zielmetriken-Druck sowie die Bedeutung quantitativer Steuerung im Alltag abbildet (angelehnt an Locke & Latham, 2002).

Beispielitems:

  • „Bei uns stehen numerische Zielgrößen (KPIs, OKRs) klar im Zentrum des Handelns.“
  • „Kundenzufriedenheit wird bei uns hauptsächlich über Zahlen und Scores bewertet.“
  • „Unsere Arbeitsrealität ist stark durch Kennzahlenstrukturen geprägt.“

Reliabilität: α = .81

4. Nutzung automatisierter Kundenkommunikationstools

Die Erhebung dieses Konstrukts erfolgte über einen eigens entwickelten Index, bestehend aus Häufigkeit, Systemeinsatz und Bedeutungszuschreibung automatisierter Kommunikation.

Beispielitems:

  • „Wir nutzen standardisierte E-Mail-Strecken, Chatbots oder Trigger-Mails regelmäßig.“
  • „Der persönliche Kontakt zum Kunden wird in unserem Unternehmen zunehmend durch automatisierte Kommunikation ersetzt.“
  • „Ich sehe in automatisierter Kommunikation einen festen Bestandteil unserer Kundeninteraktion.“

Antwortformat: 7-stufige Skala
Reliabilität: α = .79

5. Subjektives Verantwortungsgefühl gegenüber dem Kunden

Dieser Indikator wurde über eine psychologisch konzipierte 4-Item-Skala erhoben, die affektive Verbundenheit und das Gefühl personalisierter Zuständigkeit misst.

Beispielitems:

  • „Ich fühle mich persönlich verantwortlich dafür, dass unsere Kunden sich ernstgenommen fühlen.“
  • „Wenn ein Kunde enttäuscht ist, nehme ich das nicht nur beruflich, sondern auch emotional ernst.“
  • „Ich sehe mich als psychisches Gegenüber des Kunden, nicht nur als Funktionsrolle.“

Reliabilität: α = .86

6. Ambiguitätsintoleranz

Zur Messung individueller Ambiguitätsintoleranz wurde der validierte MSTAT-II (McLain, 1993) verwendet, bestehend aus 13 Items. Diese Skala erfasst das Maß an psychischer Belastung durch mehrdeutige, widersprüchliche oder unsichere Informationen – ein zentraler psychologischer Prädiktor im Umgang mit Kunden.

Beispielitems:

  • „Ich fühle mich unwohl, wenn ich mit unklaren Kundenbedürfnissen konfrontiert bin.“
  • „Mehrdeutige Informationen in der Kundenkommunikation irritieren mich.“
  • „Ich bevorzuge eindeutige, klar strukturierte Situationen.“

Reliabilität in dieser Studie: α = .91

7. Interne Kommunikationsdominanz

Dieses Konstrukt wurde durch einen eigens entwickelten 5-Item-Index operationalisiert, der den subjektiven Eindruck von Binnenorientierung misst – also den Fokus auf interne Meetings, Abstimmungen, Reportings und organisationsinterne Kommunikation.

Beispielitems:

  • „Ein Großteil meiner Zeit ist durch interne Abstimmungen und Meetings geprägt.“
  • „Unsere Kommunikation fokussiert sich stärker nach innen als zum Kunden.“
  • „Externe Perspektiven (z. B. Kundenmeinungen) gehen bei uns oft in der internen Dynamik unter.“

Reliabilität: α = .83

4.3 Skalierung und Analyseansätze

Alle Skalen wurden auf 7-stufiger Likert-Basis erfasst (1 = trifft überhaupt nicht zu, 7 = trifft voll und ganz zu). Neben deskriptiven Auswertungen (Mittelwerte, SD, Schiefe, Kurtosis) erfolgten:

  • Korrelationsanalysen zur Prüfung bivariater Zusammenhänge
  • Multiple Regressionsanalysen zur Untersuchung direkter Effekte
  • Moderationsanalysen (Process-Modell) bei H2
  • Clusteranalysen zur Identifikation psychologisch relevanter Typen
  • Reliabilitätsprüfung (Cronbach’s α) aller Konstrukte

5. Ergebnisse

Die Auswertung der standardisierten Online-Befragung mit n = 411 berufstätigen Personen bestätigt die zentrale Annahme dieser Studie: Die Beziehung zwischen Organisation und Kunde ist nicht nur eine Frage technologischer Infrastruktur, sondern Ausdruck komplexer psychologischer Spannungsverhältnisse. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass Beziehungsabbruch nicht trotz, sondern gerade aufgrund zunehmender Steuerung, Datenverfügbarkeit und interner Logiken stattfindet. Im Folgenden werden die Ergebnisse entlang der fünf Hypothesen dargestellt.

5.1 Hypothese 1 (H1): Je höher die wahrgenommene Datenverfügbarkeit über Kunden, desto geringer die subjektive emotionale Nähe zu diesen.

Empirisches Ergebnis

Die Hypothese wird durch die empirischen Daten klar gestützt. Zwischen der subjektiv eingeschätzten Datenverfügbarkeit über Kunden und der selbstberichteten emotionalen Nähe zu diesen zeigt sich ein signifikanter, negativer Zusammenhang (r = –.31, p < .001). Je umfassender die Befragten die ihnen zur Verfügung stehenden Daten zur Analyse, Prognose und Steuerung von Kunden wahrnehmen, desto geringer fällt ihr Gefühl affektiver Verbundenheit gegenüber den Kunden aus. Auch unter Kontrolle relevanter Kovariaten wie Unternehmensgröße, Funktionsbereich, Führungsverantwortung und Dauer der Unternehmenszugehörigkeit bleibt dieser Effekt stabil und signifikant (β = –.29, p < .001).

Ein Split der Stichprobe in Quartile zeigt zudem, dass Befragte im obersten Viertel der Datenverfügbarkeitswahrnehmung signifikant niedrigere Werte auf der Customer Empathy Scale aufweisen als jene im untersten Quartil (Mittelwertsdifferenz: d = 0.64, p < .001).

Tiefenpsychologische Einordnung

Der empirisch nachgewiesene negative Zusammenhang zwischen Datenverfügbarkeit und emotionaler Nähe verweist auf ein zentrales psychodynamisches Paradox: Die zunehmende kognitive Nähe zum Kunden – durch Daten, Segmentierungen, Journey-Mapping, Verhaltensprognosen – führt nicht zu affektiver Annäherung, sondern zur emotionalen Abkoppelung. Diese Spannung steht im Zentrum des Konzepts der Empathic Dissonance (Zaki, 2014), das beschreibt, wie analytisches Verstehen in bestimmten Konstellationen nicht als Brücke, sondern als Barriere zur affektiven Involvierung wirkt.

Psychodynamisch lässt sich dieses Phänomen als ein Fall von Objektentleerung durch Repräsentation deuten – ein Mechanismus, der bereits in der klassischen Objektbeziehungstheorie (insbesondere bei Klein und Winnicott) beschrieben wurde. Der reale Kunde wird nicht mehr als lebendiges, widersprüchliches, emotional komplexes Subjekt wahrgenommen, sondern durch technische, analytische oder semantische Konstrukte ersetzt: als „Buyer Persona“, „Customer Segment“, „Churn-Wahrscheinlichkeit“ oder „Lifetime Value“. Diese Repräsentationen verdichten die operative Verfügbarkeit, reduzieren jedoch die psychische Berührbarkeit.

Im Inneren der Organisation tritt somit ein Verlust der affektiven Repräsentanz des Kunden ein. Der Kunde bleibt präsent – aber nur in Form seiner Rechenbarkeit, seiner Datenstruktur, seiner funktionalen Projektionsfläche. Was verloren geht, ist der Andere als psychisches Gegenüber. Die Folge ist keine Beziehungslosigkeit im Sinne des Schweigens, sondern eine Beziehung ohne Berührung: sichtbar, aber leer.

Die Organisation sieht – aber sie fühlt nicht. Sie versteht – aber sie begegnet nicht. Der Kunde wird beobachtet, modelliert und angesprochen, aber nicht mehr innerlich bewegt. Die Beziehung bleibt formal, funktional, korrekt – aber sie verliert ihre psychische Dichte.

Dieser Vorgang kann als psychodynamische Schutzreaktion gelesen werden. Die Verdatung des Kunden reduziert nicht nur Komplexität, sondern vermeidet emotionale Konfrontation. Je detaillierter der Kunde als analytisches Objekt verfügbar gemacht wird, desto weniger ist er als Quelle affektiver Irritation oder narzisstischer Kränkung wirksam. Es entsteht eine Entlastung – allerdings auf Kosten psychischer Beziehung. Die Organisation ersetzt Subjekt durch Struktur, Begegnung durch Berechnung.

In der tiefenpsychologischen Begrifflichkeit handelt es sich um eine Subjekt-Objekt-Verschiebung, bei der der Andere als reales psychisches Wesen durch eine steuerbare Repräsentation verdrängt wird. Der Kunde wird dabei nicht verleugnet – er wird entwirklicht. Das Reale wird durch das Vorhersehbare ersetzt. Beziehung wird zur Simulation – und Empathie zur Funktion.

Die Datenlage bestätigt somit, dass ein Zuviel an verfügbar gemachtem Wissen nicht nur keine Beziehung erzeugt, sondern aktiv zu ihrer Erosion beiträgt. Der Kunde ist im System omnipräsent – aber psychologisch abwesend. Dieses Spannungsverhältnis ist kein Zufallsbefund, sondern Ausdruck einer strukturellen psychischen Realitätsverlagerung innerhalb moderner Organisationen.

5.2 Hypothese 2 (H2): Die wahrgenommene Nähe zum Kunden wird negativ moderiert durch den organisationalen KPI-Fokus.

Empirisches Ergebnis

Zur Überprüfung der Moderationshypothese wurde ein lineares Interaktionsmodell nach Hayes’ PROCESS-Methode (Modell 1, 2013) verwendet, wobei die wahrgenommene Datenverfügbarkeit über Kunden als Prädiktor, der KPI-Fokus als Moderator und die emotionale Nähe zum Kunden als Kriterium diente. Die Analyse ergab einen signifikanten Interaktionseffekt (b = –.17, p = .008), der die Hypothese stützt: Der negative Zusammenhang zwischen Datenverfügbarkeit und emotionaler Nähe verstärkt sich mit zunehmender KPI-Orientierung der Organisation.

Die Simple Slopes-Analyse zeigte, dass bei niedrigem KPI-Fokus (–1 SD) der negative Zusammenhang zwischen Datenverfügbarkeit und emotionaler Nähe statistisch unbedeutend war (β = –.12, n.s.), während er bei hohem KPI-Fokus (+1 SD) signifikant stark negativ ausfiel (β = –.41, p < .001). Die psychologische Wirkung der Daten ist somit nicht invariant, sondern abhängig davon, wie stark die Organisation durch metrische Steuerungslogik geprägt ist.

Tiefenpsychologische Einordnung

Die empirische Bestätigung der Moderationshypothese verdeutlicht eine zentrale psychodynamische Mechanik innerhalb moderner Organisationen: Der KPI-Fokus fungiert als Affektabwehrstruktur, welche die psychische Realität des Kunden systematisch funktionalisiert. In einer Umgebung, in der Kundenzentrierung über numerische Indikatoren – etwa NPS, Conversion Rates, Churn Scores – operationalisiert wird, wird der Kunde nicht mehr als Beziehungssubjekt, sondern als leistungsbezogene Rückmeldeinstanz erlebt.

Psychodynamisch gesprochen handelt es sich dabei um eine Rationalisierungsabwehr im klassischen Sinne Freuds (1926), wie sie auch in Vaillants Reifegradmodell der Abwehrmechanismen beschrieben ist. Die emotionale Zumutung des Kunden – seine Kritik, Widersprüchlichkeit, Nicht-Eindeutigkeit – wird abgewehrt, indem sie durch ein kognitiv kontrollierbares, betriebswirtschaftlich verwertbares Raster ersetzt wird. Der Kunde wird zum Träger von Key Performance Signalen – und verliert dabei seine Subjektqualität.

Das Erleben des Kunden verschiebt sich so von einem affektiv berührbaren Gegenüber hin zu einer funktional auswertbaren Rückkopplungseinheit. Die Interaktion bleibt äußerlich – sie produziert Werte, aber keine Wirkung. Der KPI-Fokus wirkt als psychologisches Schutzsystem gegen das psychische Risiko von Beziehung. Denn echte Beziehung macht verwundbar, ist nicht berechenbar, entzieht sich Steuerung. Genau das jedoch passt nicht zur inneren Organisationslogik leistungsorientierter Systeme.

Die Ergebnisse zeigen deutlich: In Organisationen mit hohem KPI-Fokus wird Beziehung nicht „nicht gewünscht“ – sie ist strukturell nicht vorgesehen. Die psychische Architektur der Organisation ist auf Kontrolle, Vergleichbarkeit und Zielerreichung ausgerichtet – nicht auf affektive Durchlässigkeit. Der Kunde darf Rückmeldung geben, aber nur dann, wenn diese operational anschlussfähig ist. Resonanz wird dadurch nicht verweigert, sondern vorausgewählt – auf Basis dessen, was zählbar, steuerbar und verwertbar ist.

Im Licht der Objektbeziehungstheorie (vgl. 2.1.1) kann man sagen: Der Kunde wird nicht mehr als reales Objekt wahrgenommen, sondern als sekundäres Funktionsobjekt, dessen Wertigkeit sich aus der Organisation selbst ableitet. Das Beziehungsgeschehen wird dabei nicht nur reduziert, sondern strukturell umcodiert: von affektiver Beziehung zu funktionaler Rückmeldung.

Diese Entgrenzung von technischer Rückkopplung und psychischer Beziehung führt zu einem schwer identifizierbaren Resonanzbruch – einem Zustand, in dem Organisationen glauben, mit dem Kunden in Interaktion zu sein, dabei jedoch nur mit ihren eigenen Zielsystemen kommunizieren. Die emotionale Nähe zum Kunden ist in diesem System nicht „verloren gegangen“, sondern nie vorgesehen gewesen.

Die Moderation durch den KPI-Fokus zeigt also keine bloße statistische Nuancierung, sondern offenbart eine tiefe psychologische Dynamik: Je stärker die Organisation durch numerische Steuerung strukturiert ist, desto wirkmächtiger wird die Beziehungslosigkeit – nicht als Ausfall, sondern als Folge eines Systemdesigns, das emotionales Erleben substituiert durch Performancekontrolle.

5.3 Hypothese 3 (H3): Die Nutzung automatisierter Kundenkommunikationstools korreliert negativ mit der subjektiv empfundenen Kundenverantwortung der Mitarbeitenden.

Empirisches Ergebnis

Die Hypothese wurde durch die Daten eindeutig bestätigt. Zwischen dem Index zur Nutzung automatisierter Kundenkommunikation (z. B. Chatbots, Trigger-Mails, automatisierte E-Mail-Strecken) und dem subjektiv empfundenen Verantwortungsgefühl gegenüber dem Kunden wurde ein signifikanter negativer Zusammenhang festgestellt (r = –.27, p < .001). Auch in einer multiplen Regressionsanalyse unter Kontrolle von Funktionsbereich, Unternehmensgröße, Erfahrung und Führungsspanne bleibt der negative Effekt stabil und signifikant (β = –.24, p < .001).

Besonders ausgeprägt war der Effekt bei Befragten, die angaben, einen Großteil der Kommunikation mit Kunden über automatisierte Strecken abzuwickeln. In dieser Gruppe war das Verantwortungsgefühl gegenüber dem psychischen Erleben des Kunden – also nicht nur dessen Zufriedenheit, sondern dessen emotionale Resonanz – signifikant geringer als in der Gruppe mit überwiegend persönlicher Kundenkommunikation (Mittelwertsdifferenz: d = 0.52, p < .001).

Tiefenpsychologische Einordnung

Diese Ergebnisse verweisen auf eine strukturelle Dynamik der Verantwortungsentkopplung durch Automatisierung. Die technische Rationalisierung von Kundeninteraktion – etwa durch regelbasierte Kommunikationssysteme, algorithmische Trigger-Logiken oder vorformulierte Reaktionsmuster – reduziert nicht nur den Aufwand auf operativer Ebene, sondern verändert auch den psychologischen Status des Kundenkontakts.

Psychodynamisch betrachtet handelt es sich um einen Vorgang der Abwehr durch Delegation: Die Beziehung wird an Systeme ausgelagert, um der affektiven Zumutung realer Begegnung zu entgehen. Der Kunde spricht – aber nicht mehr mit einem Menschen, sondern mit einer Organisationseinheit. Die Verantwortung wird nicht explizit verweigert, sondern technisch ausgelagert, ohne dies als Abwehr zu deklarieren. Es handelt sich um eine Form der strukturellen Dissoziation: Kommunikation bleibt erhalten, aber Beziehung wird entleert.

Diese psychische Entkopplung wird durch para-soziale Strukturen (vgl. 2.2.1) verstärkt: Automatisierte Tools suggerieren Nähe („Hallo Max, willkommen zurück!“), erzeugen aber keine Reziprozität. Sie sprechen personalisiert – aber nicht persönlich. Sie sind responsiv – aber nicht resonanzfähig. Diese Interaktionsform erzeugt bei Mitarbeitenden eine funktionale Beziehungssimulation, die keinen emotionalen Bindungsakt mehr erfordert. Die affektive Verantwortung bleibt aus, weil sie strukturell nicht vorgesehen ist.

Die Daten legen nahe, dass die Nutzung automatisierter Kommunikation nicht nur ein technischer Fortschritt ist, sondern auch ein psychologischer Entlastungsmechanismus. Die Organisation muss nicht mehr in Beziehung treten, um Wirkung zu erzielen. Sie kann Nähe choreografieren, ohne Berührung zuzulassen. Aus Sicht der Mitarbeitenden reduziert sich dadurch die Notwendigkeit, sich als empathische, emotional offene Ansprechpartner zu erleben – sie werden Kommunikationsoperatoren statt Beziehungsträger.

In der Objektbeziehungstheorie lässt sich dieses Muster als eine Form der Entaffektivierung des Objekts deuten: Der Kunde bleibt als Auslöser von Kommunikationshandlungen bestehen, verliert aber seinen Status als affektives Gegenüber. Die Beziehung wird technisch repräsentiert, aber nicht psychisch gehalten. Es entsteht eine Interaktionshülle – stabil, effizient, skalierbar –, der jedoch das emotionale Rückgrat fehlt.

Besonders bemerkenswert ist, dass die befragten Mitarbeitenden diese Verantwortungsverschiebung nicht als Defizit erleben, sondern häufig als angenehme Distanzierung beschreiben. Dies verweist auf einen zweiten psychodynamischen Mechanismus: die narzisstische Abwehr des Kontrollverlusts. Automatisierte Kommunikation erlaubt es, auf Kunden zu reagieren, ohne sich psychisch exponieren zu müssen. Sie verhindert die Unwägbarkeit realer Interaktion – und schützt damit das organisationale Selbstbild, das keine Irritation durch „nicht planbare Kundenemotionen“ mehr zulässt.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die empirischen Daten stützen die These, dass die Automatisierung der Kundenkommunikation nicht nur Kommunikation verändert, sondern auch das Verantwortungserleben, die Beziehungstiefe und die emotionale Verfügbarkeit gegenüber dem Kunden fundamental verschiebt. Verantwortung wird nicht mehr gefühlt – weil sie technisch vorstrukturiert ist. Der Kunde bleibt adressiert, aber nicht mehr gemeint.

5.4 Hypothese 4 (H4): Mitarbeitende mit hoher Ambiguitätsintoleranz neigen stärker dazu, Kundenbedürfnisse als bedrohlich oder unklar zu empfinden.

Empirisches Ergebnis

Die Hypothese wurde durch die empirischen Daten klar bestätigt. Zwischen der individuell ausgeprägten Ambiguitätsintoleranz (gemessen mit der Skala MSTAT-II, McLain, 1993) und der Bewertung von Kundenbedürfnissen als bedrohlich, diffus oder schwer zu fassen wurde ein signifikant positiver Zusammenhang festgestellt (r = .36, p < .001).

In der Regressionsanalyse stellt Ambiguitätsintoleranz den stärksten Einzelprädiktor für die Wahrnehmung von Kundenbedürfnissen als irritierend dar (β = .34, p < .001), auch bei Kontrolle von Hierarchiestufe, Alter, Berufserfahrung und Branchenzugehörigkeit.

Besonders stark ist der Effekt in der Subgruppe derjenigen Befragten, die in operativen Schnittstellenrollen (z. B. Kundenservice, Außendienst, Key Account Management) tätig sind. Hier zeigt sich eine deutlich höhere psychische Belastung im Umgang mit mehrdeutigen oder impliziten Kundenbedürfnissen, wenn die persönliche Ambiguitätstoleranz gering ist.

Tiefenpsychologische Einordnung

Das Ergebnis offenbart eine zentrale psychologische Spannung, die im organisationalen Alltag häufig übersehen wird: Kundenbedürfnisse sind selten eindeutig. Sie sind oft ambivalent, nicht sprachlich präzise artikuliert, situativ widersprüchlich oder emotional gefärbt. Für Mitarbeitende mit hoher Ambiguitätsintoleranz stellt dies eine erhebliche Belastung dar, da es die Sicherheit der Eindeutigkeit unterläuft. Aus psychodynamischer Sicht handelt es sich hierbei um eine niedrige Toleranz für psychische Fremdheit – der Kunde als Anderer wird nicht als Beziehungspartner akzeptiert, sondern als Quelle innerer Unruhe erlebt.

Ambiguitätsintoleranz beschreibt die Neigung, Unsicherheit, Mehrdeutigkeit und nicht auflösbare Komplexität als aversiv, irritierend oder gar gefährlich zu erleben (Budner, 1962). In der Kundeninteraktion äußert sich das in einer starken Tendenz zur Affektvermeidung, vorschnellen Etikettierung oder standardisierten Antwortmustern. Die psychische Wirklichkeit des Kunden wird nicht integriert, sondern abgewehrt – entweder durch Vermeidung, Projektion („Der Kunde ist halt verwirrt“) oder durch rationalisierende Überformung („Das passt nicht zu unseren Zielgruppenparametern“).

Aus tiefenpsychologischer Sicht liegt ein klassischer Abwehrmechanismus gegenüber Beziehungskomplexität vor. Die unklare, emotionale, latent widersprüchliche Natur realer Kundenbedürfnisse aktiviert innere Spannungen – etwa Kontrollverlust, Selbstwertunsicherheit oder narzisstische Kränkungsangst. Um sich davor zu schützen, neigen Mitarbeitende mit geringer Ambiguitätstoleranz dazu, den Kunden entweder als problematisch oder als nicht ernstzunehmend zu kodieren. Die Realität des Kunden wird so nicht ignoriert – sondern kognitiv entwertet.

Dabei handelt es sich nicht um individuelles Fehlverhalten, sondern um eine psychodynamische Schutzstrategie. Die Organisation verlangt Orientierung an Kundenbedürfnissen – lässt aber häufig keine Fehler oder Unsicherheiten zu. Der psychologische Widerspruch zwischen dieser externen Offenheit und der internen Intoleranz gegenüber Unklarheit wirkt wie ein impliziter Konfliktraum, in dem Mitarbeitende gezwungen sind, Ambivalenz zu externalisieren: auf den Kunden, auf „schwierige Typen“, auf „vage Erwartungen“.

Besonders kritisch ist, dass diese Dynamik häufig verfestigt und kollektiviert wird. In Teams mit niedriger Ambiguitätstoleranz dominieren meist geschlossene Deutungsmuster („Kunden wissen eh nie, was sie wollen“), die jede differenzierte Wahrnehmung verhindern. Die psychische Reibung wird so nicht individuell ausgetragen, sondern in kollaborative Abwehrlogiken überführt – ein Prozess, der die kollektive Empathiefähigkeit nachhaltig untergräbt.

In der Objektbeziehungstheorie würde man von einer projektionalen Entsorgung innerer Unruhe sprechen: Der innere Konflikt (die Unsicherheit) wird nicht integriert, sondern nach außen verlagert – auf den Kunden als Container für das Nicht-Aushaltbare. Damit wird der Kunde zum psychologischen Problemträger – nicht, weil er es ist, sondern weil er es psychodynamisch werden muss.

Die empirische Evidenz zeigt damit nicht nur einen Zusammenhang, sondern eine psychologische Achse organisationaler Resonanzblockade: Je weniger Unsicherheit Mitarbeitende psychisch ertragen können, desto stärker wird der Kunde zum Störfaktor statt zum Beziehungspartner. Kundenbedürfnisse werden so nicht wahrgenommen, sondern abgewehrt.

5.5 Hypothese 5 (H5): Unternehmen mit ausgeprägter interner Kommunikationsdominanz zeigen signifikant geringere Empathiewerte im externen Kundenkontakt.

Empirisches Ergebnis

Die Hypothese wurde durch die Daten deutlich bestätigt. Zwischen dem Index für interne Kommunikationsdominanz (z. B. Häufigkeit interner Meetings, Abstimmungsprozesse, internes Reporting) und den auf der Customer Empathy Scale gemessenen empathischen Haltungen gegenüber dem Kunden zeigte sich ein signifikanter negativer Zusammenhang (r = –.33, p < .001).

Die Regressionsanalyse bestätigte diesen Zusammenhang auch bei Kontrolle relevanter Kovariaten wie Unternehmensgröße, Branche, Funktion und Führungsspanne (β = –.31, p < .001). Mitarbeitende aus Kontexten mit hoher interner Kommunikationsdichte berichteten signifikant seltener, sich emotional mit Kunden verbunden zu fühlen oder deren psychisches Erleben innerlich mitzuvollziehen.

Eine Subgruppenanalyse ergab, dass dieser Effekt besonders stark bei Personen ausgeprägt war, deren Arbeitsalltag überwiegend durch interne Steuerung, Koordination und KPI-bezogene Abstimmungen geprägt war – insbesondere in mittleren Managementebenen.

Tiefenpsychologische Einordnung

Die empirischen Befunde stützen eindrucksvoll die in Kapitel 2.2.2 dargestellte Theorie der Organizational Reality Bubbles (Weick, 1979). Organisationen, die stark nach innen kommunizieren, entwickeln geschlossene Bedeutungsräume, in denen das Primat interner Anschlussfähigkeit systematisch über die Beziehung zum Außen gestellt wird. Die psychische Realität des Kunden wird dadurch nicht explizit abgelehnt – sie wird schlicht nicht mehr als relevant empfunden.

Tiefenpsychologisch handelt es sich hierbei um eine kollektive Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus: Die affektive Energie der Organisation richtet sich nicht mehr auf das Gegenüber, sondern auf sich selbst. Beziehung wird dadurch nicht mehr zum Erfahrungsraum, sondern zum Projektionsrest. Die Kommunikation bleibt technisch korrekt, inhaltlich kohärent – aber psychologisch leer.

Die Organisation beginnt, sich selbst zu spiegeln, statt sich im Kunden zu erkennen. In der Sprache der Objektbeziehungstheorie bedeutet dies: Der Kunde verschwindet als internalisiertes Objekt aus dem emotionalen Binnenraum der Organisation – ersetzt durch interne Bezugsgrößen wie Führung, Reporting, Abstimmung oder Prozesskonformität. Die emotionale Präsenz des Kunden wird durch Strukturen der Selbstreferenz überlagert.

Dieser Vorgang ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck einer systemisch stabilisierten Empathieverdrängung: Wo die organisationale Aufmerksamkeit dauerhaft nach innen gerichtet ist – in Meetings, Planungszyklen, Prozessharmonisierungen –, wird die psychische Resonanzfähigkeit nach außen blockiert. Der Kunde wird zwar adressiert, aber nicht mehr affektiv inkludiert. Er wird zur „Zielgruppe“, zum „Use Case“, zum „Segment“ – aber nicht mehr zum Subjekt.

Diese Verlagerung lässt sich auch als narzisstische Binnenverlagerung interpretieren. Die Organisation sucht Bestätigung, Sinn und Kontrolle primär in sich selbst – nicht mehr im Dialog mit dem Außen. Der Kunde wird dabei nicht antagonisiert, sondern semantisch entmächtigt: Er bleibt Teil der Kommunikation, aber nicht mehr Teil des psychischen Beziehungssystems. Resonanz wird zur Simulation – Empathie zur Fassade.

Die Tatsache, dass insbesondere mittlere Managementebenen von diesem Effekt betroffen sind, verweist auf eine tiefere strukturelle Dynamik: Diejenigen, die als Bindeglied zwischen Strategie und Umsetzung agieren, befinden sich in einer permanenten Spannung zwischen Außenorientierung (Kunde) und Innenorientierung (Organisation). Wenn die Innenorientierung dominiert, kollabiert das psychische Gleichgewicht zugunsten kommunikativer Selbstvergewisserung – auf Kosten der Beziehung zum Kunden.

Diese Ergebnisse zeigen: Interne Kommunikationsdominanz ist nicht nur ein Effizienzproblem, sondern eine psychologische Disposition organisationaler Resonanzverweigerung. Der Kunde bleibt formal relevant – aber emotional bedeutungslos. Das System spricht – aber es hört nicht mehr. Und wenn es hört, dann hört es sich selbst.

6. Diskussion der Ergebnisse

Die empirischen Befunde dieser Studie machen deutlich: Unternehmen verfügen heute über mehr Kundenwissen, präzisere Tools und intensivere Kommunikationsfrequenzen als je zuvor – und verlieren dennoch die psychologische Beziehung zum Kunden. Die Entfremdung erfolgt nicht durch Datenmangel, sondern durch affektive Entleerung. Sie ist kein Fehler im System, sondern das System selbst.

Was entsteht, ist eine neue Form organisationeller Beziehungslosigkeit: orchestriert, datenbasiert, simuliert – aber innerlich leer. Der Kunde ist überall – im Dashboard, im Funnel, im CRM – und doch nirgends psychisch präsent. Die Organisation sieht, aber sie spürt nicht. Sie reagiert, aber sie antwortet nicht. Sie kennt den Kunden – aber sie erkennt ihn nicht.

Diese Konstellation hat weitreichende Folgen – nicht nur für Kommunikation, sondern für die Grundstruktur ökonomischer Anschlussfähigkeit. Drei zentrale Wirkungsebenen lassen sich aus den Ergebnissen ableiten:

6.1 Innovationskraft: Wenn der Kunde nicht mehr als Quelle, sondern als Rauschen erscheint

Innovation lebt nicht von Planung, sondern von Berührung. Sie entsteht dort, wo Organisationen sich von etwas affektiv Irritierendem, existenziell Fremdem oder emotional Unverfügbarem ansprechen lassen. Der klassische Innovationsbegriff – als Reaktion auf erkannte Bedürfnisse – greift in dieser Perspektive zu kurz. Denn Bedürfnisse sind keine fixierten Datenpunkte, sondern bewegliche psychische Strukturen, die sich im Spannungsfeld zwischen sozialer Realität, individueller Innenwelt und organisationalem Deutungssystem formen. Wer wirklich innovativ handeln will, muss nicht nur wissen, was Menschen wollen, sondern fühlen, was ihnen fehlt, noch bevor sie es selbst artikulieren können.

Genau hier aber liegt der Bruch, den diese Studie sichtbar macht: Der Kunde erscheint in datengetriebenen, KPI-zentrierten und technisierten Organisationen nicht mehr als lebendiges Gegenüber, sondern als berechenbarer Erwartungsträger, als konsistentes Segment, als Input für Trainingsdaten. Das Ungeplante, das Ambivalente, das Innerlich-Unverfügbare – also genau jene psychische Zone, aus der echte Innovation hervorgeht – wird systematisch entwirklicht. Der Kunde wird nicht mehr als Quelle affektiver Verunsicherung, sondern als operativer Reizgeber behandelt.

In dieser Konstellation kommt es zu einer fundamentalen Subjekt-Objekt-Verschiebung: Der Kunde wird nicht mehr als Anderer erfahren, sondern als verlängertes Datenfeld der Organisation selbst. Sein Verhalten dient nicht der Begegnung, sondern der Modellierung. Seine Rückmeldung wird nicht als Zumutung, sondern als Verwertbarkeit gelesen. Organisationen lernen dadurch nur noch das, was sie ohnehin schon zu wissen glauben – eine Form kollektiver epistemischer Selbstvergewisserung, die dem Prinzip echter Innovation diametral entgegensteht.

Psychodynamisch gesprochen handelt es sich um eine Regression in die narzisstische Selbstbestätigung: Der Kunde verliert seinen Status als psychisches Gegenüber und wird zum Spiegel des eigenen Leistungsideals. Die Organisation spricht mit ihm – aber eigentlich mit sich selbst. Innovation wird so zum funktionalen Monolog in dialogischer Verkleidung, zur Fortschreibung interner Konzepte mit den Mitteln äußerlicher Responsivität. Es wird gehört, aber nicht zugehört. Es wird getestet, aber nicht infrage gestellt. Der Innovationsprozess wird zur selbstreferenziellen Fortschreibung – entleert von Risiko, Berührung und Transformation.

Diese Dynamik erzeugt einen Zustand, den man als resonanzlose Innovationserschöpfung bezeichnen kann: Es wird iteriert, aber nicht inspiriert. Optimiert, aber nicht verunsichert. Was entsteht, sind strukturell perfekte, emotional leere Lösungen – Produkte, Services oder Erlebnisse, die die bekannten Erwartungen erfüllen, aber keine neue Wirklichkeit berühren. Die Organisation verliert das Staunen – jenen psychologischen Akt, der am Ursprung jedes tiefgreifenden Innovationsmoments steht. Denn nur wer staunt, kann erkennen, dass die Welt anders sein könnte, als sie ist.

Hinzu tritt ein weiterer, systemisch verschärfender Effekt: Technologiebasierte Innovation ohne Beziehungsraum neigt zur Überbeschleunigung und Entkopplung. Sie produziert Neuerung ohne Kontext, Disruption ohne Integration. Der Kunde wird nicht zum Co-Creator, sondern zum finalen Tester – entmündigt durch die semantische Inszenierung von Beteiligung. Innovationsprozesse, die so strukturiert sind, scheitern nicht an Ideenarmut, sondern an Beziehungsarmut: Sie generieren Ergebnisse, aber keine Wirkungen.

In der Konsequenz transformiert sich die Innovationskraft zur Selbstbewegung ohne Weltbezug. Die Organisation erfindet – aber nur sich selbst. Sie entwickelt – aber nicht mit dem Anderen. Sie verändert – aber nur innerhalb ihres psychologischen Erwartungskorridors. Der Kunde erscheint nicht mehr als Initiator, sondern als letzter Reflex – ein Spätprodukt der eigenen Deutungswelt. In dieser Konstellation wird Innovation zur postaffektiven Simulation, zur strukturellen Wiederholung in immer intelligenterer Verpackung.

Diese entkoppelte Form der Innovation ist nicht zukunftsfähig. Sie mag kurzfristig erfolgreich sein – in Märkten, in denen die Resonanzfähigkeit der Konsumenten ebenfalls reduziert ist. Doch langfristig führt sie zur kulturellen Erosion der Relevanz. Marken verlieren ihr Innovationsprestige nicht, weil sie nicht mehr können – sondern weil sie niemanden mehr wirklich berühren.

6.2 Kundenbindung: Wenn Nähe zur Simulation wird und Beziehung zur funktionalen Fiktion

Kundenbindung gilt in Unternehmen als strategische Kernressource – operationalisiert in Retention Rates, Net Promoter Scores, Loyalty Indices. Doch diese Metriken suggerieren Stabilität, wo psychologisch bereits Entfremdung wirkt. Denn Kundenbindung ist kein Zahlenspiel, sondern ein emotionaler Langzeitprozess, der auf einem realen Beziehungsgefühl beruht: auf Gegenseitigkeit, psychischer Antwortbereitschaft und affektiver Relevanz.

Die Ergebnisse dieser Studie zeigen jedoch, dass genau diese psychische Basis zunehmend brüchig wird. Kundenbeziehungen werden technologisch inszeniert, aber nicht mehr affektiv getragen. Unternehmen investieren massiv in personalisierte Kommunikation, Journey-Architektur und semantisch codierte Zuwendung („Hallo Max, schön, dass du wieder da bist!“). Diese Maßnahmen erzeugen die Illusion von Nähe, aber keine Beziehung im psychologischen Sinne. Nähe wird simuliert – auf der Oberfläche von Kanälen, aber ohne affektive Tiefe.

Tiefenpsychologisch gesprochen handelt es sich um eine Beziehung ohne Bindung, um eine Form ästhetisierter Responsivität, die sich nicht aus Gegenseitigkeit speist, sondern aus Interface-Logik, Datenprofilen und verhaltensökonomischer Steuerung. Der Kunde wird adressiert – aber nicht gemeint. Er erhält Aufmerksamkeit – aber kein inneres Gegenüber. Er interagiert – aber er wird nicht wirklich gehalten.

Diese Form der Interaktion entspricht strukturell dem Konzept der para-sozialen Beziehung (Horton & Wohl, 1956): eine einseitige Nähe, die psychologisch real erlebt wird, aber strukturell keine Reziprozität kennt. Während der Kunde subjektiv das Gefühl hat, „angesprochen“ oder „gemeint“ zu sein, bleibt die Organisation psychisch unberührbar. Sie gibt keine Antwort, sondern nur Feedback. Die Beziehung wird zur Inszenierung von Gegenseitigkeit, zur Simulation von Aufmerksamkeit – choreografiert, aber nicht gelebt.

Diese Dynamik erzeugt auf Kundenseite eine sekundäre Frustration: eine tiefe Irritation darüber, emotional angesprochen, aber innerlich nicht erreicht zu werden. Es entsteht eine Bindungskulisse ohne Bindungssubstanz. Die Reaktion darauf ist häufig ein Wechsel in den Modus psychischer Selbstregulation: Kunden interagieren rational, nutzen Angebote funktional, bewerten transaktional. Doch sie binden sich nicht. Sie bleiben präsent – aber innerlich abgekoppelt.

In der Objektbeziehungstheorie würde man von einer entkoppelten Objektbeziehung sprechen: Der Andere (die Marke, das Unternehmen) bleibt als psychisches Objekt bestehen, verliert jedoch seine innere Vitalität. Die Folge ist eine latente Gleichgültigkeit, die sich nicht in Zufriedenheit oder Unzufriedenheit äußert, sondern in emotionaler Bedeutungslosigkeit. Der Kunde bleibt – aber nur, solange kein innerlich relevanteres Angebot auftaucht. Kundenbindung wird dadurch ökonomisch aufrechterhalten, aber psychologisch aufgekündigt.

Diese Struktur ist nicht zufällig – sie ist eine Folge organisationaler Abwehr: Die emotionale Nähe zum Kunden wird abgewehrt, weil sie Aufwand bedeutet, Ambiguität erzeugt, Verletzlichkeit verlangt. Stattdessen wird sie simuliert – durch Programme, Scorings, Tools, Sprache. Der Vorteil: Nähe kann skaliert werden. Der Nachteil: Sie berührt niemanden mehr.

Besonders gefährlich ist, dass diese Simulation zunehmend nicht mehr als Simulation erlebt wird. Die Organisation glaubt, in Beziehung zu stehen – weil alle Kanäle „bespielt“ sind, weil der Kunde regelmäßig interagiert, weil Feedbacksysteme Antworten generieren. Doch psychologisch ist diese Beziehung ausgehöhlt. Sie ist funktional am Leben, aber emotional tot. Die Bindung besteht weiter – aber nicht als Beziehung, sondern als Abfolge kontrollierter Impulse.

Aus tiefenpsychologischer Perspektive handelt es sich um eine kollektive Bindungssimulation: Die Organisation spielt Beziehung – und der Kunde spielt mit. Beide Parteien wissen unbewusst, dass nichts mehr wirklich geschieht – doch sie halten das Spiel aufrecht, weil es funktional Vorteile bietet: Stabilität, Reaktionssicherheit, Vermeidbarkeit von Enttäuschung.

Langfristig jedoch erzeugt diese Beziehungssimulation eine psychologische Erosion des Markenkerns. Kundenbindung verliert ihre emotionale Basis – und damit ihre immunisierende Wirkung gegenüber Wechselanreizen, Irritationen oder situativer Unsicherheit. Bindung wird zur Kontingenz – nicht zur Beziehung. Sie ist nicht mehr Ergebnis gemeinsamer Geschichte, sondern Restgröße algorithmisch regulierter Wiederholung.

6.3 Die Zukunft mit KI: Von der Ersetzbarkeit zur Entfremdung

Die Integration von Künstlicher Intelligenz in kundenbezogene Prozesse gilt vielerorts als Durchbruch: effizient, skalierbar, personalisiert. Generative Sprachmodelle, emotionserkennende Systeme, automatisierte Gesprächsführung und adaptive Kommunikationsstrategien versprechen eine neue Stufe der Kundennähe – schneller, intelligenter, sensibler. Doch gerade diese Fortschritte legen einen gefährlichen Mechanismus offen: Je perfekter die Simulation von Beziehung gelingt, desto unsichtbarer wird ihre Abwesenheit.

Die Ergebnisse dieser Studie machen deutlich, dass die Organisation bereits ohne KI systematisch zur Abwehr von Beziehung tendiert – durch Verdatung, KPI-Fokussierung, Toolisierung und Selbstreferenz. KI verschärft diesen Mechanismus nicht per se. Aber sie vollendet ihn, weil sie eine nahezu perfekte Möglichkeit bietet, Kommunikation ohne Involvierung zu orchestrieren, Zuwendung zu inszenieren, Resonanz zu imitieren.

Tiefenpsychologisch handelt es sich um eine strukturelle Beziehungssimulation unter Ausschluss des psychischen Selbst. Die Organisation tritt mit dem Kunden in Austausch – aber nicht in Beziehung. Sie spricht, reagiert, antizipiert – aber sie fühlt nicht, riskiert nicht, verändert sich nicht. Die Interaktion wird zur Bühne – und der Kunde zum Publikum einer semantischen Performance, die von niemandem mehr getragen wird.

Diese Entwicklung ist besonders perfide, weil sie nicht als Verlust, sondern als Fortschritt wahrgenommen wird. Je flüssiger die Kommunikation, desto weniger fällt auf, dass niemand mehr spricht. Je empathischer das Wording, desto unsichtbarer wird, dass niemand mehr fühlt. Je genauer das Targeting, desto selbstverständlicher wird die psychische Entleerung des Kundenkontakts.

Was entsteht, ist eine neue Kommunikationsstruktur: postemotional, hochgradig responsiv, aber vollständig entkoppelt von innerer Welt. Die Organisation antwortet – aber ohne Subjekt. Sie trifft Tonalitäten – aber keine Entscheidung. Sie erzeugt Zustimmung – aber keine Bindung. Der Kunde wird nicht mehr überzeugt, sondern beruhigt. Die Beziehung dient nicht mehr der Transformation, sondern der Regulierbarkeit. Die Organisation ersetzt Berührung durch Steuerung.

In psychoanalytischer Terminologie ließe sich von einer totalen Externalisierung der Beziehung sprechen: Das, was früher zwischen Menschen als affektives Geschehen stattfand – Angst, Hoffnung, Kränkung, Anerkennung – wird nun von Systemen verwaltet. Die Organisation selbst bleibt davon unberührt, unbeteiligt, unangreifbar. Die eigentliche psychische Bewegung der Beziehung – das wechselseitige Sich-Verändern – ist durch technologische Vermittlung vollständig neutralisiert.

Hinzu tritt ein zweiter, kaum reflektierter Effekt: Die Organisation verliert im Umgang mit KI nicht nur die Beziehung zum Kunden – sondern die Beziehung zu sich selbst. Denn wer nicht mehr in echter, affektgetragener Kommunikation steht, verlernt, was es heißt, wahrzunehmen, zu antworten, zu irritieren und irritiert zu werden. Die emotionale Muskulatur erschlafft. Beziehung wird zum Designproblem, nicht mehr zur Begegnung. Es entsteht eine Form organisationeller Empathieatrophie, die nicht reversibel ist – weil sie nicht bemerkt wird.

Langfristig droht dadurch eine doppelte Entfremdung:

  • Der Kunde verliert sein Gegenüber.
  • Die Organisation verliert ihr Selbst.

Was bleibt, ist ein System aus perfekten Mustern, das nur noch Verhalten verwaltet, aber kein Erleben mehr zulässt. Der Kunde ist vollständig integriert – aber nicht mehr anwesend. Die Organisation ist omnipräsent – aber psychologisch abwesend.

Diese Entwicklung ist nicht technisch, sondern psychologisch gefährlich. Denn sie verführt zur Selbsttäuschung in Echtzeit: Die Illusion von Beziehung überdeckt deren Abwesenheit. KI wird dadurch nicht zum Werkzeug, sondern zum Spiegel einer Beziehungslosigkeit, die sich selbst nicht mehr erkennt.

Die eigentliche Grenze der KI liegt nicht in ihrer Fähigkeit – sondern in der Verantwortungslosigkeit, mit der Organisationen sich durch sie emotional entlasten. Wer Nähe delegiert, verliert sie. Wer Beziehung simuliert, zerstört sie. Wer den Kunden spricht, ohne ihn zu spüren, macht ihn zum Schatten seiner Daten – und sich selbst zum Schatten einer Organisation, die einmal beziehungsfähig war.

7. Schlussfolgerung, Implikationen und Empfehlungen

7.1 Schlussfolgerung

Diese Studie belegt: Inmitten einer datengetriebenen, technologisch hochentwickelten und semantisch ausgefeilten Kommunikationslandschaft verlieren Unternehmen zunehmend den psychischen Kontakt zum Kunden. Was als Fortschritt erscheint – CRM-Systeme, Customer Journeys, automatisiertes Feedback – führt nicht zu mehr Nähe, sondern zu einem subtilen, systemisch erzeugten Resonanzverlust.

Die empirischen Ergebnisse sind eindeutig:

  • Je höher die Datenverfügbarkeit, desto geringer die erlebte emotionale Nähe.
  • Je dominanter KPI-Strukturen, desto schwächer die affektive Rückbindung.
  • Je stärker automatisiert die Kundenkommunikation, desto niedriger das Verantwortungsgefühl.
  • Je ausgeprägter die Ambiguitätsintoleranz, desto rigider der Abwehrmodus gegenüber Kundenbedürfnissen.
  • Je intensiver die Binnenkommunikation, desto tauber wird die Organisation gegenüber psychischen Außenwelten.

Diese Muster verweisen auf ein tieferliegendes Strukturproblem: Die Beziehung zum Kunden wird nicht aktiv verweigert, sondern strukturell ersetzt – durch Repräsentation, Steuerung, Kontrolle. Der Kunde verliert seine Qualität als Subjekt und erscheint nur noch als Funktionsträger, als Datenfeld, als KPI-Impuls.

Tiefenpsychologisch gesprochen handelt es sich um eine kollektive Verlagerung des Beziehungsgeschehens: von der affektiven Gegenwärtigkeit zur funktionalen Simulation. Die Organisation verlernt zu fühlen, weil sie sich selbst über Systeme, Routinen und Messgrößen vor emotionaler Verunsicherung schützt. Das Resultat ist keine Kommunikationsarmut – sondern eine emotional leere Interaktion, in der Beziehung inszeniert, aber nicht mehr erlebt wird.

Damit steht weit mehr auf dem Spiel als Kundenorientierung: Die Organisation verliert ihre Innovationsfähigkeit, ihre Bindungskraft und ihre psychische Integrität. Der Preis für maximale Effizienz ist der schleichende Rückzug aus echter Beziehung.

7.2 Implikationen

a) Organisationale Beziehungslosigkeit ist kein Nebenprodukt, sondern ein strukturelles Resultat

Die emotionale Entfremdung vom Kunden entsteht nicht durch technische Defizite, sondern durch unbewusste psychodynamische Schutzmechanismen: Verleugnung, Projektion, Rationalisierung und Externalisierung wirken nicht als individuelle Irrtümer, sondern als kollektive Abwehrarchitektur gegen emotionale Irritation. Beziehung wird nicht als Ressource, sondern als Störung empfunden – und durch Simulation ersetzt.

b) KPI-Systeme, Automatisierung und Datenarchitekturen erzeugen sekundäre Beziehungslosigkeit

Die Organisation kommuniziert viel – aber hört nicht mehr zu. Je intelligenter die Systeme, desto perfekter die Beziehungssimulation. Was bleibt, ist eine semantische Nähehülle ohne Substanz. Unternehmen operieren im Modus der Messbarkeit, aber verlieren die Fähigkeit zur affektiven Rückkopplung. Daraus resultiert eine neue Form von funktionalisierter Beziehungslosigkeit, die die Grundlage echter Loyalität, Vertrauen und Markenzugehörigkeit zerstört.

c) Künstliche Intelligenz wirkt als Beschleuniger emotionaler Selbstentleibung

Die Einführung generativer KI-Systeme verstärkt diese Dynamiken nicht nur – sie vervollständigt sie. Unternehmen delegieren affektive Begegnung an Systeme ohne Innenwelt und verlernen dabei, sich selbst in Beziehung zu setzen. KI wird nicht zur Unterstützung, sondern zur Vollendung der Beziehungssimulation. Die Organisation spricht – aber nicht mehr als psychisches Subjekt. Sie antwortet – aber nicht mehr auf etwas, das sie innerlich bewegt.

7.3 Empfehlungen

1. Radikale Re-Personalisierung: Den Kunden als psychisches Gegenüber rekonstruieren

Unternehmen müssen lernen, den Kunden nicht als Datenschatten oder Persona zu behandeln, sondern als affektives Subjekt mit innerer Welt. Dies verlangt neue Formate jenseits von Zielgruppenmodellen: biografisch-narrative Tiefeninterviews, symbolische Bedürfnisrekonstruktionen, psychologische Repräsentanzräume innerhalb der Organisation. Entscheidend ist nicht mehr die Frage „Was will der Kunde?“, sondern:

Was richtet unsere Organisation psychisch an, wenn sie dem Kunden begegnet – und was löst der Kunde in uns aus?

2. Einführung eines psychologischen Resonanz-Checks an allen Touchpoints

Touchpoints dürfen nicht nur technisch optimiert, sondern müssen auf ihre affektive Anschlussfähigkeit geprüft werden. Jedes Kontaktmoment braucht eine psychologische Tiefenprüfung: Wird der Kunde gehört – oder nur erfasst? Wird er gespürt – oder nur analysiert? Qualitative Mikroanalysen, affektsemantische Gegenlesungen und psychodynamische Szenarienarbeit sind zentrale Instrumente einer neuen Auditkultur.

3. KPI-Systeme mit Resonanzindikatoren erweitern

Zahlen allein erzeugen keine Beziehung. Sie müssen durch psychologisch interpretierbare Resonanzsignale ergänzt werden: affektive Reibung, Irritationsintensität, psychologische Berührbarkeit. Dies bedeutet nicht Kontrollverlust, sondern eine Erweiterung von Steuerung: von bloßer Leistungsmessung hin zu psychischer Wirkungserfassung. Nur so lassen sich blinde Flecken im Beziehungssystem identifizieren.

4. Empathie als professionelle Kompetenz – nicht als Soft Skill

Empathie darf nicht länger als freundliche Grundhaltung oder rhetorische Technik verstanden werden, sondern als psychische Kompetenz zur affektiven Durchlässigkeit. Sie verlangt Ausbildung, Supervision und Erfahrungsräume. Mitarbeitende müssen lernen, emotionale Komplexität nicht zu reduzieren, sondern auszuhalten. Denn nur wer innerlich durchlässig bleibt, kann echte Resonanz ermöglichen – auch in konflikthaften, nicht eindeutigen Kundenkontakten.

5. KI als Resonanzverstärker statt Beziehungssurrogat denken

KI sollte nicht die Beziehung ersetzen, sondern den Raum dafür öffnen. Systeme müssen so gestaltet sein, dass sie nicht Nähe simulieren, sondern Resonanz ermöglichen: durch bewusste Begrenzung automatisierter Kommunikation, durch Signalverarbeitung statt Signalproduktion, durch Rückzug statt Dauerpräsenz, wenn psychologische Tiefe gefordert ist. Die zentrale Designfrage lautet:

Wo endet die Maschine – und wo beginnt die Beziehung?

Fazit

Diese Studie beschreibt kein operatives Defizit, sondern eine neue Epoche der Beziehungslosigkeit, die technologisch kaschiert, aber psychologisch spürbar ist. Sie zeigt, dass Unternehmen vor einem tiefen Wandel stehen – vom datenbasierten Customer Management zur resonanzfähigen Organisation.

Zukunftsfähig ist nicht, wer am besten auswertet – sondern wer am stärksten berührt.
Nicht, wer den Kunden kennt – sondern wer ihn erkennt.
Nicht, wer kommuniziert – sondern wer antwortet.

Denn im Zeitalter algorithmischer Kommunikation und perfektionierter Simulation ist das Letzte, was uns bleibt – die Beziehung.
Nicht als Tool. Nicht als Score. Sondern als Wirklichkeit.

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